Montag20. Oktober 2025

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Häusliche GewaltWenn die helfende Hand zuschlägt: Zwei Überlebende teilen ihre Leidensgeschichte

Häusliche Gewalt / Wenn die helfende Hand zuschlägt: Zwei Überlebende teilen ihre Leidensgeschichte
Zuerst bot er Hilfe an, später schlug er zu: zwei Überlebende häuslicher Gewalt über ihre Erlebnisse Illustration: Tageblatt

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Zwei Frauen ziehen aus einem europäischen Land nach Luxemburg und verfallen hier demselben Mann: In der Öffentlichkeit spielt er den Helfer, hinter geschlossenen Türen verletzt er sie mit Worten und Hieben. Eine Horrorgeschichte zwischen Luxemburg und einem Kriegsgebiet.

Du bist eine junge Frau in ihren Zwanzigern. Bisher meint das Leben es gut mit dir: Du hast einen Hochschulabschluss, Erfolg im Beruf, eine unterstützende Familie. Trotzdem hast du Lust auf mehr. Du bringst Tausende Kilometer zwischen dich und deine – zu dem Zeitpunkt noch friedliche – Heimat, als du nach Luxemburg ziehst. Hier findest du sofort Anschluss und eine Bleibe.

In der Zeit lernst du einen Mann kennen, der dir ähnelt: Ihr vertretet scheinbar dieselben Werte. Zuerst schreibt ihr euch, dann folgen Treffen. Dir gefallen sein soziales Engagement und seine vielen Fragen zu deiner Person. Der Kontakt wird intensiver. Als er wenige Monate nach der ersten Textnachricht von Liebe und einer gemeinsamen Zukunft spricht, hoffst du auf dein großes Glück. „Er wickelte mich um den Finger und ließ nicht mehr los“, sagst du. „Die Warnzeichen erkannte ich nicht, denn ich bin in einem liebevollen Umfeld aufgewachsen, frei von Gewalt oder Konflikten.“

Erste Ausraster

Er will mit dir zusammenziehen. Deine Bekannten halten das für verfrüht und raten davon ab, deinen Wohnsitz aufzugeben. Als du ihm davon erzählst, hängt der Haussegen schief. „Wenn du mir misstraust, brauchst du gar nicht erst mit mir zusammenzuziehen“, manipuliert er dich. Du gibst nach.

Jetzt teilt ihr euch vier Wände und die Miete. Auf den Verträgen für das Appartement existierst du nicht. Er will das so. Eine Erklärung bleibt er dir schuldig. Dafür verlangt er, dass du mitziehst: Er lebt auf großem Fuß, was du dir mit deinem mittleren Gehalt auf Dauer nicht leisten kannst. Das regt ihn zunehmend auf. Er beginnt, dich zu beleidigen, dein Herkunftsland und dich als Frau herabzuwürdigen. „Du bist eine Frau und die sind weniger wert als ein Mann“, redet er auf dich ein.

Jeden Tag.

Jede Nacht.

Hoffentlich wache ich morgen nicht auf

Überlebende häuslicher Gewalt, die durch den Missbrauch mental erkrankte

Zwischendurch überschüttet er dich mit Komplimenten, umgarnt dich und leugnet die Gewalt, die er dir antut. Du leidest zunehmend unter dem Missbrauch, schaffst es morgens immer öfter nicht aus dem Bett. Wenn du dich abends schlafen legst, treibt dich bald nur noch ein Gedanke um: „Hoffentlich wache ich morgen nicht auf.“ Als er dein Unwohlsein wahrnimmt, beginnt er dich zu schlagen. Immer so, dass die Verletzungen unsichtbar bleiben.

„Dein Job ist beschissen. Du bist ekelhaft und hässlich. Ich hätte mir eine andere, eine wohlhabendere Frau aussuchen sollen“, schreit er. Du versuchst, dich in der Wohnung vor ihm zu verstecken, sperrst dich ein. Er tritt die Türen nieder, später entwendet er alle Schlüssel. „Es war unmöglich, ihm zu entkommen“, erinnerst du dich.

Und dann bricht in deinem Heimatland der Krieg aus.

Kriegszustand

Zwischen deiner Familie und dir herrscht plötzlich Funkstille, bis Entwarnung kommt: Deinen Angehörigen geht es gut, auch wenn dein Elternhaus in Schutt und Asche liegt. Er steht euch helfend zur Seite. In der Öffentlichkeit mimt er den Helden; hinter verschlossenen Türen wünscht er dir und deinem Land den Untergang. „Menschen aus deinem Land sind herzlos“, schimpft er.

Mehrfach willst du dich trennen, informierst dich bei der Polizei über Handlungsmöglichkeiten. Er zwingt dich jedes Mal, zu bleiben. „Wenn du mich anzeigst, sorge ich persönlich dafür, dass du deportiert wirst“, warnt er dich. „In deiner Heimat missbrauchen dich dann die Soldaten der feindlichen Armee.“

Du willst psychologische Unterstützung beanspruchen und erzählst ihm davon. Darauf droht er deiner Familie Gewalt an: Sprichst du in der Therapie über eure Beziehung, tötet er deine Angehörigen. „Ich werde davon erfahren, ich habe Kontakte“, behauptet er. „Meiner Meinung nach ist es ohnehin besser, du nimmst dir das Leben: Dir ist nicht zu helfen.“

Du beginnst, ihm zu glauben. Zum Glück suchst du dir dennoch unter falschem Vorwand Beratung: Du spielst deiner Therapeutin anfangs vor, dich um die Menschen in deiner Heimat zu sorgen, bevor du dich sicher fühlst und auspackst. Sie verschreibt dir starke Antidepressiva und rät dir: „Lauf!“

Erneut versuchst du, deine Flucht zu planen. Monatelang suchst du eine neue Unterkunft. Wegen der grassierenden Wohnungskrise in Luxemburg dauert es, bis du fündig wirst. An einem Tag, an dem er nicht zu Hause ist, verschwindest du, bepackt mit wenigen Habseligkeiten. Du entkommst ihm – doch er sucht und findet eine weitere Frau, die er zerstören will. 

Lichtblick nach der Flucht

Nach dir trifft er sie: Sie kommt aus demselben Land wie du. Nur erreicht sie Luxemburg nach Ausbruch des Krieges, der jetzt dort wütet – sie ist auf der Flucht vor dem Bombenhagel, als sie ihn in einer Organisation kennenlernt, die sich an Zugezogene aus eurem Herkunftsland richtet. Er überrascht sie mit seinem Wissen über die politischen Konflikte in eurer Heimat und mit seiner Hilfsbereitschaft. „Er schien zu verstehen, wie sehr der Krieg mir zusetzt“, sagt sie, „und kreierte die Illusion, er sei mein Freund.“

Sie flüchtete vor dem Krieg, geriet in Luxemburg jedoch in die Fänge eines gewalttätigen Mannes
Sie flüchtete vor dem Krieg, geriet in Luxemburg jedoch in die Fänge eines gewalttätigen Mannes Illustration: Tageblatt

Er bietet ihr vorübergehend eine Bleibe an, als sie darauf angewiesen ist. „Ich erhoffe mir dadurch keine Beziehung“, versichert er. „Ich will nur helfen.“ Sie geht auf das Angebot ein. Der Umzug geschieht einen Monat nach dem Kennenlernen, genauso wie die ersten innigen Liebesbekundungen und Heiratsfantasien seinerseits. Anders als bei dir, läuten bei ihr sofort die Alarmglocken. Leise.

Er schien zu verstehen, wie sehr der Krieg mir zusetzt und kreierte die Illusion, er sei mein Freund

Überlebende häuslicher Gewalt, als sie das Kennenlernen mit ihrem gewalttätigen Expartner beschreibt

„Die ersten ‚red flags‘ erkannte ich nach unserem ersten romantischen Date“, erinnert sie sich. „In der Theorie bin ich mit toxischen Beziehungsmustern und häuslicher Gewalt vertraut, doch ich ließ mich trotzdem zunächst auf ihn ein.“ Inzwischen arbeitet sie freiberuflich für die Organisation, in der sie sich trafen. Er ist aktives Mitglied. Gemeinsam fahren sie in euer Herkunftsland, um den Menschen vor Ort zu helfen. Sie stellt ihn im Zuge dieser Reise ihrer Familie vor. „Meine Mutter warnte: ‚Sei vorsichtig, er redet schlecht über dich.‘ Das ist nicht ihre Art, normalerweise äußert sie sich nicht zu meinen Partnern“, weiß sie. Zurück in Luxemburg, eskaliert die Situation.

„Du gehörst hier nicht hin. Du wirst niemals in Luxemburg einen Job finden“, greift er sie an. Zwar bemüht sie sich um einen festen Job, doch braucht dies Zeit – Zeit, in der sie sich keine eigene Wohnung leisten kann und deswegen bei ihm bleibt. Als er später von ihren Gesundheitsproblemen erfährt, unter anderem bedingt durch Stress wegen des Krieges, prophezeit er ihr wie dir den baldigen Tod. Gleichzeitig fabuliert er von einer Hochzeit, gibt auf Partys mit ihr an und befiehlt ihr, ihm zu huldigen. „Sag ‚Du bist der tollste Mann, den ich kenne‘“, fordert er sie auf.

Dich erwähnt er ebenfalls – die verrückte Exfreundin, die ihn in die Drogensucht getrieben und angezeigt hat. Statt dir zu misstrauen, verweist sie ihn auf sein toxisches Verhalten. Glaubt dir, einer Fremden, mehr als ihm. Mit diesem Widerstand kommt er nicht klar. Die Gewalt nimmt zu, bis sie mitten in der Nacht davonläuft. Aus Verzweiflung flüchtet sie zurück in eure brennende Heimat. „Dort versteckte ich mich im Bad vor den einschlagenden Raketen“, sagt sie.

Du triffst sie

Eure Wege kreuzen sich zufällig. „Sie ist eine unfassbar starke Frau“, kommentierst du eure Begegnung. „Sie wehrte sich körperlich und mental gegen ihn und das war neu für ihn.“ Du holst sie zurück nach Luxemburg, wo auch sie juristische Schritte gegen ihn einleitet. Ein Kontaktverbot gegen ihn kann keine von euch erwirken. Ihr warnt euer Umfeld vor ihm, denn er ist auf der Jagd nach der nächsten Frau, die er zugrunde richten kann. Einzelpersonen glauben euch, Konsequenzen zieht aber niemand.

Ein Mann, zwei Gesichter
Ein Mann, zwei Gesichter Illustration: Tageblatt

Die Angestellten der Organisation, in der sie tätig war und er bis heute Mitglied ist, verweigern seinen Rauswurf. Wortgewandt und manipulativ, fällt es ihm leicht, den Spieß umzudrehen: Er macht euch zu den Täterinnen – und eure gemeinsamen Kontakte ziehen mit. Während sich die Leitung der Organisation von euch distanziert und vor allem sie scharf dafür kritisiert, sich öffentlich zu den Vorfällen zu äußern, erntet er Lob für sein Engagement für Kriegsbetroffene. Ihr zeigt euch nach hitzigen Diskussionen kompromissbereit: „Wenn ihr ihn nicht rauswerfen wollt, dann hört zumindest auf, ihn zu glorifizieren.“ Der Bitte kommt niemand nach. Ihr verliert den Draht zu eurer eigenen Gemeinschaft, die sich hinter ihn stellt, mit dem Argument: „Bis zur Verurteilung gilt die Unschuldsvermutung.“

Erfahrungen mit den Autoritäten

Ein Bekannter von euch will nicht länger schweigen. Er wendet sich an mich, rät mir, mit euch Kontakt aufzunehmen. Euer Rückruf erfolgt schnell, denn ihr habt den Drang, eure Geschichte zu teilen. Anonym, denn noch wurde kein Urteil gesprochen.

„Habt ihr in Luxemburg als Überlebende häuslicher Gewalt die nötige Unterstützung erfahren?“, frage ich euch. Ihr zögert. Was ihr beide bedauert: die langen Wartezeiten auf einen Therapieplatz und die Ungewissheit über den Bearbeitungsstand eures Dossiers. Davon abgesehen teilt ihr unterschiedliche Erfahrungen.

Du bist allgemein enttäuscht von der Betreuung durch die Polizei, deren einziger Ratschlag war, dich auf ein Bett in einer Notunterkunft für Frauen zu bewerben. Über weitere Anlaufstellen für Betroffene häuslicher Gewalt wurdest du nicht informiert. Auf die nationale Helpline bist du selbst gestoßen. „Zuerst erreichte ich niemanden“, sagst du mir, „dann scheiterte der Austausch an Sprachbarrieren.“

Statt Verständnis für meine Entscheidung aufzubringen, wiesen mich die Beamten zurecht: Ich hätte gefälligst in Luxemburg bleiben sollen, immerhin würde ich hier Hilfsgelder kassieren

Überlebende häuslicher Gewalt über Kommentare von Beamt*innen, die von ihrer Flucht ins Ausland erfuhren

Ihr bleibt besonders der harsche Ton der Beamt*innen der Zuwanderungsbehörde in Erinnerung. Als sie nach ihrer Flucht in den Krieg in Luxemburg zu einem Pflichttermin erschien, begegnete man ihr mit Skepsis. „Ich habe ihnen meine Situation erklärt“, erinnert sie sich. „Statt Verständnis für meine Entscheidung aufzubringen, wiesen mich die Beamten zurecht: Ich hätte gefälligst in Luxemburg bleiben sollen, immerhin würde ich hier Hilfsgelder kassieren.“

Von wegen „Istanbul-Konvention“

Ich weiß, dass ein solcher Umgangston keine Ausnahme ist. Das bestätigt mir eine Sozialarbeiterin, die unter anderem Frauen mit Migrationshintergrund in Notsituationen betreut. Zwar fällt der Begriff in dem Gespräch nicht, doch es ist indirekt die Rede von struktureller Diskriminierung durch die Autoritäten. Das deckt sich auch mit dem, was Vertreterinnen von Grevio, Break the Cycle, „Femmes en détresse“ und Women for Women France vergangenes Jahr in einer Konferenz der Plattform Leilaw zu häuslicher Gewalt und Migration erzählten.

Die Soziologinnen, Rechtswissenschaftlerinnen und Anwältinnen verwiesen unter anderem auf Verstöße der Justiz gegen die Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt), die Luxemburg 2018 ratifizierte: Regelmäßig wird beispielsweise Asylbewerberinnen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, der Schutzstatus verwehrt – trotz drohender Lebensgefahr im Fall einer Rückführung. Dasselbe bezeugte die Gynäkologin und Frauenrechtlerin Monika Hauser kürzlich im Interview mit dem Tageblatt zu sexualisierter Gewalt und ihrem Einsatz im Krieg.

Solange er auf freiem Fuß ist, wird er weiter das Leben von Frauen zerstören

Überlebende häuslicher Gewalt zur Tatsache, dass noch kein Urteil gegen ihren Expartner gesprochen wurde

Ihr habt Anzeige erstattet. Die Mehrheit der Überlebenden häuslicher Gewalt tut das jedoch nicht, unabhängig ihrer Herkunft. Aus Unwissen über ihre Rechte, Misstrauen gegenüber den Autoritäten, Verständnisproblemen oder wegen der Abhängigkeit der meist männlichen Täter. Zum Beispiel, wenn ihre Aufenthaltserlaubnis an den Partner gebunden ist, etwa im Rahmen des „regroupement familial“, oder wegen finanzieller Notlagen. Du erwähnst außerdem die Tatsache, dass das Sprechen über häusliche Gewalt in manchen Kulturkreisen ein Tabu bleibt. „Wir wissen beide von Fällen, in denen Frauen Gewalt durch Männer erfahren, die entweder Luxemburger sind oder deutlich länger hier leben als ihre Partnerinnen“, deutest du auf ein weiteres Problem hin. „Die Männer fühlen sich überlegen und nutzen ihre Machtposition aus.“

Ihr wisst nicht, ob und wann euer Expartner verurteilt wird. Gelegentlich lässt er euch über Dritte wissen, dass er euch beobachtet. „Ich lebe in ständiger Angst um meine Familie und mich selbst“, offenbarst du. Ihr wollt ihn hinter Gittern sehen und verlangt, dass er für seine Taten bestraft wird. „Solange er auf freiem Fuß ist, wird er weiter das Leben von Frauen zerstören“, ist sie überzeugt. „Wir wollen, dass keine Frau durchmachen muss, was wir erlebt haben.“

Weiterführende Informationen

Die gewählte Textform soll die Anonymität der Betroffenen garantieren. Es wurde bewusst auf Statistiken verzichtet, um die persönlichen Erlebnisse der Gesprächsteilnehmerinnen in den Mittelpunkt zu stellen.

Wer häusliche Gewalt erlebt oder beobachtet, kann neben der Polizei (Tel.: 113) die Website violence.lu aufsuchen, wo unterschiedliche Anlaufstellen und Telefonnummern vermerkt sind. Betroffene können außerdem die Helpline 20601060 anrufen.

Livia
22. November 2024 - 4.45

Thank you for sharing your story, ladies. You are incredibly brave. I hope this man will be stopped.

And I hope that NGO that one of the ladies was part of actually wakes up, speaks up about this violence, and forbids this man access to its events, including childrens.

Kassandra
21. November 2024 - 7.53

Was ich nicht verstehe: Dieser Mann scheint das Verhaltensmuster eines Beutegreifers an den Tag zu legen und er scheint es besonders auf Frauen abgesehen zu haben, deren emotionales Gleichgewicht durch Krieg/Migration erschüttert ist. Wieso ist sein Verhalten niemandem aufgefallen? Wieso kann er weiter bei dieser karitativen Einrichtung arbeiten?