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Hoher Preis für Protest in RusslandWenn das Hochhalten von Tolstois „Krieg und Frieden“ plötzlich mit einer Anzeige endet

Hoher Preis für Protest in Russland / Wenn das Hochhalten von Tolstois „Krieg und Frieden“ plötzlich mit einer Anzeige endet
Der russische Staat verschärft die Repression: Festnahme einer Frau Anfang April in Moskau Foto: AFP

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Für ausgetauschte Preisschilder im Supermarkt drohen zehn Jahre Haft, das Hochhalten von Tolstois „Krieg und Frieden“ endet mit Anzeige. Wer in Russland die offizielle Meinung hinterfragt, lebt immer gefährlicher. Der Staat verschärft die Repression.

„Perekrjostok“ heißt Kreuzung auf Russisch. Supermärkte quer durch Russland tragen diesen Namen. Sie sind nicht teuer, nicht billig und finden sich an vielen Ecken russischer Städte. Weiß sind die Preisschilder, manchmal auch gelb, wenn die Waren reduziert sind. An einem Abend im März fanden sich in einem Perekrjostok in Sankt Petersburg statt Preisschildern kleine Handzettel – über den Krieg in der Ukraine. Über den Beschuss des Theaters in Mariupol und den Tod von Zivilisten. Es war ein Protest zwischen Buchweizen und Nudelpackungen. Ein kaum sichtbarer und doch offenbar ein so wirkungsvoller, dass Ermittler der Sankt Petersburger Polizei eine Soko einrichteten, um die „Übeltäterin“ wochenlang zu suchen.

Alexandra Skotschilenko, eine junge Künstlerin und Aktivistin, hatte die Preisschilder ausgetauscht. Seit einigen Tagen sitzt die Petersburgerin in U-Haft, ihr drohen bis zu zehn Jahre Haft – wegen „öffentlicher Verbreitung wissentlich falscher Informationen über die Handlungen der russischen Streitkräfte“. Es ist einer von mittlerweile 38 Straffällen, in denen wegen des neuen, erst im März eingeführten Zensurgesetzes ermittelt wird, rund 1.300 Menschen bekamen wegen der „Diskreditierung der Armee“ bereits Ordnungsstrafen.

Absurde Vorwürfe

Der russische Angriffskrieg muss in Russland „militärische Spezialoperation“ genannt werden. Was im Nachbarland passiert, wird verklärt und verleugnet. Alle, die sich nicht an der staatlich verordneten Verherrlichung beteiligen und das auch noch öffentlich kundtun, gelten dagegen als Verräter, von denen Russland „gesäubert“ werden müsse, wie der russische Präsident Wladimir Putin vor einigen Wochen erklärte.

Das Schweigen spaltet die Gesellschaft, macht das Leben vieler unerträglich. Die einen gehen ins Exil, die anderen wehren sich, indem sie grüne Bändchen als Zeichen des Protests an Bäume in den städtischen Parks hängen, das Buch „Krieg und Frieden“ von Leo Tolstoi in die Höhe halten oder Preisschilder austauschen wie Alexandra Skotschilenko, die laut Richterin damit eine „schwerwiegende Handlung gegen die öffentliche Ordnung“ begangenen habe. Die 31-Jährige habe zudem auch noch eine nahe Verwandte in Frankreich und Freunde in der Ukraine, heißt es in der Anklage. Die Vorwürfe sind absurd, zeigen aber die Haltung des Regimes, dass jeder Andersdenkender als „Fremder“ und „von außen Beeinflusster“ zerstört werden müsse. Das Hinterfragen offizieller Positionen wird kaum noch geduldet. Selbst Unterhaltungen am Telefon über den Krieg in der Ukraine machen die Menschen verdächtigt. Schüler denunzieren ihre Lehrer, Supermarktbesucher andere Supermarktbesucher.

Rückkehr der Sippenhaft

Der prominenteste – und politischste – Fall der neuen Gesetzgebung betrifft eine bekannte Figur der russischen Opposition: Wladimir Kara-Mursa. Der 40-Jährige koordinierte seit den 2000er Jahren im Hintergrund oppositionelle Gruppen und lobbyierte für deren Anliegen im Ausland, wie er sich auch jahrelang in Europa und den USA für Sanktionen gegen russische Funktionäre einsetzte. Er arbeitete an der Seite des vergifteten und inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny, wurde, wie russische und internationale Rechercheure im Nachhinein herausfanden, von derselben Gruppe des russischen Geheimdienstes wie auch Nawalny zweimal vergiftet. Er überlebte die schweren Anschläge. Seine Frau und seine drei Kinder leben aus Sicherheitsgründen im Ausland, er pendelte immer wieder zwischen den USA und Russland. Bis vor knapp zwei Wochen. Seitdem sitzt er in Haft. Ihm wird ein Auftritt vor den Abgeordneten im Repräsentantenhaus in Arizona vorgeworfen. Eine Rede auf Englisch. Dabei soll er „Falschnachrichten“ verbreitet und „politischen Hass“ gesät haben.

Die Zensurgesetze sind den Behörden allerdings nicht genug. Nun soll die Generalstaatsanwaltschaft auch das Recht bekommen, Redaktionen die Lizenz und Journalisten die Akkreditierung zu entziehen und selbst Büros ausländischer Medien zu schließen, ohne richterlichen Beschluss. Zum „ausländischen Agenten“ kann zudem jeder werden, der „von außen beeinflusst“ werde. Wie diese „Beeinflussung“ aussieht, wird nicht erklärt. Auch Verwandte eines „Agenten“ können gebrandmarkt werden, die Sippenhaft kehrt damit offiziell zurück. Auch Firmen und Ausländer können zu „Agenten“ werden. Der Nachweis ausländischer Finanzierung, wie das ohnehin schwammig formulierte Gesetz bislang gefordert hatte, fällt weg. Damit wird die Hetzjagd auf kritische Geister noch leichter gemacht.

JJ
27. April 2022 - 16.41

In Russland darf überhaupt nicht protestiert werden. Putin ist eine Spezialoperation für sein Land.Die Russen müssen herhalten.
Wie lange noch?