Wenn das vermeintliche Liebes- oder Familienglück zum Albtraum wird: Die Erfahrungsberichte von Tausenden verprügelten und missbrauchten Frauen erschüttern seit Tagen die Webwelten in den ex-jugoslawischen Staaten. „Tapfere Mädchen lösen eine Frauenrevolution in Serbien aus“, titelt die Belgrader Zeitung Blic.
Ausgelöst hatte die Lawine der verstörenden Berichte ein Tweet der serbischen Politologin Nina Stojakovic. Ihre Schwester sei eineinhalb Jahre von ihrem Partner verprügelt worden, bevor sie nach einem Selbstmordversuch den Mut aufgebracht habe, ins Elternhaus zurückzukehren. Bei der Polizei sei ihr gesagt worden, dass man nichts tun könne, weil es keinen ärztlichen Untersuchungsbericht gebe, „obwohl es mehrere Zeugen gibt, die ihre Verletzungen und aufgeplatzten Lippen gesehen haben“: „Warum hatte sie ihn nicht früher angezeigt? Weil sie einfach bis auf die Knochen verängstigt war.“
Ich habe ihn nicht angezeigt aus Angst, dass er mir das Kind wegnimmt oder mich tötet
„#NisamPrijavila“ – „Ich habe (ihn) nicht anzeigt“ – nennt sich der in der letzten Woche veröffentlichte Hashtag, unter dem bereits in den ersten 48 Stunden über 20.000 Frauen auf Twitter über ihre traumatischen Erfahrungen berichteten. In Serbien werde Twitter nur von drei bis vier Prozent der Bevölkerung oder von 250.000 Menschen genutzt, so die Initiatorin Dejana Stosic, Mitarbeiterin des SOS-Frauen-Telefons in Vranje. Schätzungen zufolge erstatte nur jedes neunte Opfer von häuslicher Gewalt eine Anzeige, in ländlichen Regionen liege die Dunkelziffer noch höher, so Stosic: Es sei davon auszugehen, dass 80 Prozent der Serbinnen in ihrem Leben schon einmal zu Opfern von sexueller Belästigung oder einer „Art von Gewalt“ geworden seien.
Laut Erhebungen der OSZE-Mission in Sarajevo sollen rund die Hälfte der Bosnierinnen schon Gewalt und Missbrauch erlitten haben. Es sind nicht nur gewalttätige Partner, sondern auch die Mauer der Ignoranz, auf die sie bei der Polizei, aber auch im eigenen Umfeld stoßen, die den Opfern zu schaffen machen. „Du hast keine Beweise“, „so ist halt die Ehe“, „gehe nach Hause und schlafe dich aus“ oder „kein Wunder bei dem Kleid, was du trägst“, sind die Kommentare von Polizeibeamten, die oft keinerlei Verständnis für die Nöte der verprügelten oder vergewaltigten Frauen zeigen.
Frauen wird nicht geglaubt
Nicht nur die Angst vor der Rache des (Ex-)Partners, sondern auch die Furcht, von der Polizei verlacht und von der Gesellschaft oder der eigenen Familie stigmatisiert zu werden, hält viele Frauen von einer Anzeige ab. „Ich habe ihn nicht angezeigt aus Angst, dass er mir das Kind wegnimmt oder mich tötet“, so eine der Frauen. „Ich habe ihn nicht angezeigt, weil ich die Eltern und die Söhne nicht beunruhigen wollte, weil ich allein bin im Leben“; „ich habe ihn nicht angezeigt, weil ich fürchtete, dass die Polizei sich gegen mich wendet“ oder „ich habe ihn nicht angezeigt, weil dies eine große Schande ist“, so andere Frauen.
Serbien ist keineswegs eine Ausnahme in der Region: Auch aus den ex-jugoslawischen Nachbarstaaten Montenegro, Nordmazedonien oder Bosnien-Herzegowina melden sich Gewaltopfer per Twitter mit ähnlichen Berichten. Sie sei wütend auf ein System, das den „Frauen keinerlei Schutz gibt, die von ihren Partnern verprügelt werden“, so Nina Stojakovic: „Und ich bin auch wütend auf Nachbarn, die sich beim Vermieter über Lärmbelästigung beklagen, statt die Polizei zu alarmieren.“
Diese Gesellschaft glaube „nicht einmal einer lebenden Frau, geschweige denn einer toten“, so einer der verbitterten Berichte. Tatsächlich wurde der Jahreswechsel in Serbien von einem erneuten Femizid überschattet. Kurz nach seiner Haftentlassung hat ein 58-jähriger Mann in der vergangenen Woche seine Ex-Frau und seine beiden Töchter im nordserbischen Sombor ermordet, bevor er das einstige Familienhaus in Brand steckte und sich selbst erhängte.
De Maart
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