Sonntag21. Dezember 2025

Demaart De Maart

ForumWarum Politik lieber beruhigt als aufklärt: Stephen De Ron über die Einladung zur nationalen Demo

Forum / Warum Politik lieber beruhigt als aufklärt: Stephen De Ron über die Einladung zur nationalen Demo
 Symbolfoto: dpa/Jens Kalaene

Jetzt weiterlesen!

Für 0,99 € können Sie diesen Artikel erwerben:

Oder schließen Sie ein Abo ab:

ZU DEN ABOS

Sie sind bereits Kunde?

Was geschieht, wenn politische Kritik nicht als Beitrag zur Debatte verstanden wird, sondern als Störung des Betriebs? Wenn das Klopfen an die Tür der Verantwortung als Lärm gilt – und nicht als Einladung zum Gespräch? Wenn Sorgen vorschnell mit Etiketten wie „Populismus“ oder „Angstmacherei“ versehen werden – lange bevor man sich die Mühe gemacht hat, sie zu verstehen?

Vor wenigen Wochen flatterte ein Flugblatt in alle Haushalte des Landes – verteilt von den größten Gewerkschaften, formuliert in zugespitzten, klaren Worten. Kein akademischer Aufsatz, keine sterile Statistik – ein Weckruf. In einer Zeit, in der die Lebenshaltungskosten explodieren und die soziale Schieflage wächst, sind laute Worte oft das letzte Mittel, um überhaupt noch gehört zu werden. Der Warnruf war laut – weil ihn leise niemand gehört hätte.

Am 22. Juni folgte die Antwort: Ein junger Abgeordneter der CSV, Teil der Regierungsmehrheit, veröffentlichte im Luxemburger Wort eine Replik. Darin wirft er dem Flugblatt vor, Angst zu schüren, Fakten zu verdrehen, Populismus zu betreiben. Es sei alarmistisch und schade der politischen Kultur. Ein bekanntes Muster: Kritik wird nicht durch Argumente beantwortet, sondern delegitimiert. Was nicht ins glattgebügelte Narrativ der Regierung passt, wird zur Übertreibung erklärt.

Doch wer sich die Mühe macht, die Aussagen im Flyer mit der Lebensrealität vieler Menschen abzugleichen, erkennt: Hier wurde nichts verzerrt – sondern ausgesprochen, was allzu lange verdrängt wurde.

Mehr Geld auf dem Papier, doch alles wird teurer

Ein zentrales Beispiel: die Kaufkraft. Der Abgeordnete nennt es „schlichtweg falsch“ zu behaupten, dass sie unter der aktuellen Politik leidet. Eine gewagte These. Denn die Preisentwicklung der letzten Monate spricht eine andere Sprache: Energie, Mieten, Lebensmittel – alles wird spürbar teurer. Die Einkommen dagegen steigen kaum – und wenn, dann nicht für alle. Wer in prekären Jobs arbeitet oder unsichere Beschäftigungen hat, spürt das besonders stark. Auf dem Papier mag es mehr Geld geben – aber am Monatsende bleibt oft zu wenig übrig, um durchzuatmen.

Ja, es gibt Beihilfen wie die „allocation de vie chère“ und die „prime énergie“. Für bestimmte Gruppen – etwa Empfänger*innen des „Revis“ oder Personen, die bereits die „allocation de vie chère“ erhalten – werden diese Hilfen automatisch ausgezahlt. Doch für viele andere gilt das nicht: Sie müssen die Unterstützung aktiv beantragen – mit Formularen, Fristen und Einkommensnachweisen. Viele wissen gar nicht, dass sie überhaupt anspruchsberechtigt wären. Andere geben angesichts der administrativen Hürden auf. Und für breite Teile der Mittelschicht greifen diese Hilfen ohnehin nicht. Die Politik spricht von „gezielter Unterstützung“ – doch oft ist sie so gezielt, dass sie an denen vorbeigeht, die sie dringend bräuchten.

Die Anpassung der Steuertabelle war keine großzügige Geste, sondern eine überfällige Notwendigkeit. Zu lange hatte die kalte Progression still an der Kaufkraft gezehrt. Wer etwas mehr verdient, rutscht schneller in eine höhere Steuerstufe – ohne real mehr zur Verfügung zu haben. Die Korrektur kam spät und reicht nicht aus, um das auszugleichen, was zuvor verloren ging.

Wohnen ist längst keine Frage des Komforts mehr

Besonders deutlich wird das beim Wohnen. Die Wohnungskrise ist längst kein Randthema mehr, sondern ein täglicher Stresstest für all jene, die keine Immobilie besitzen. Junge Menschen, Alleinerziehende und Zugezogene geraten unter Druck. Laut Liser liegt die durchschnittliche Miete bei rund 37 Euro pro Quadratmeter, in Luxemburg-Stadt bei über 43. In beliebten Vierteln kosten selbst einfache Wohnungen oft mehr als 2.000 Euro im Monat. Für viele bedeutet das: Über die Hälfte des Einkommens geht für Miete drauf.

Und beim sozialen Wohnungsbau? Kaum Fortschritt. Die Zahl neuer Projekte ist laut Housing Observatory deutlich gesunken. Zwar sind die Immobilienpreise zwischen 2022 und 2024 kurzfristig gefallen – aber nur, weil Kredite wegen hoher Zinsen unerschwinglich wurden. Viele wichen auf den Mietmarkt aus. Die Folge: steigende Mieten. Und obwohl die Immobilienpreise inzwischen wieder steigen, sinken die Mieten nicht. Im Gegenteil: Sie ziehen weiter an. Wohnen ist längst keine Frage des Komforts mehr – sondern der sozialen Gerechtigkeit.

Trotzdem heißt es, es werde „mehr denn je“ in die Kaufkraft investiert. Auf dem Papier mag das stimmen. In der Realität reicht es nicht. So entsteht eine stille Trennung – zwischen denen, die Reserven haben, und jenen, für die jeder Monat ein Kraftakt ist. Diese Spaltung ist kein Zufall. Sie ist das Resultat einer Politik, die sich zunehmend an marktwirtschaftlichen Kennzahlen orientiert, aber den sozialen Zusammenhalt aus dem Blick verliert. Die aktuelle neoliberale Linie verschärft diese Entwicklung weiter – systematisch, nicht versehentlich. Es wird Zeit, ihr entschieden entgegenzuwirken. Denn wenn die einen steuerbegünstigt Eigentum vererben können, während die anderen beim Stromzähler sparen müssen, dann ist das nicht bloß ein Ungleichgewicht – es ist ein Bruch mit dem Versprechen sozialer Gerechtigkeit.

Wer nicht ins Raster passt, fällt durchs Netz

Auch bei den Renten bleibt der Ton gelassen: Alles sei stabil, Reformen gebe es noch keine. Doch genau das kritisiert das Flugblatt: dass Weichen gestellt werden, bevor ein gesellschaftlicher Konsens gesucht wird. Der Premierminister selbst sprach von Reformbedarf. Dass solche Signale Verunsicherung auslösen, ist kein Alarmismus, sondern nur logisch.

Was fehlt, ist ein ehrlicher Blick auf die Logik des Systems. Luxemburgs Rentenversicherung basiert auf dem Umlageprinzip: Wer heute arbeitet, finanziert die Renten von heute. Das funktioniert nur, wenn Solidarität nicht bloß beschworen, sondern organisiert wird. Doch wer über Beitragssätze sprechen will, gilt schnell als Angreifer der Kaufkraft. Dabei ist es umgekehrt: Nicht die Beiträge gefährden den Sozialstaat – sondern politische Bequemlichkeit.

Diese Bequemlichkeit hat Folgen. Wer Kinder großgezogen, Angehörige gepflegt oder studiert hat, steht im Alter oft schlechter da. Wer krank war oder Lücken im Versicherungsverlauf hat, muss kämpfen. Wer Jahrzehnte gearbeitet hat und dann wegen Formfehlern Rentenzeiten verliert, erlebt eine stille Ungleichbehandlung. Die Regeln sind oft zu kompliziert, schwer verständlich – und für viele kaum erfüllbar. Wer nicht ins Raster passt, fällt durchs Netz. Darüber wird selten gesprochen – dabei ist es für viele bittere Realität.

Der Text im Luxemburger Wort spricht von Respekt, Dialog und konstruktiver Debatte. Doch Tonfall, Argumentation und moralische Überheblichkeit dahinter sprechen eine andere Sprache. Das ganze Flugblatt wird pauschal als falsch abgetan – ohne sich den strukturellen Problemen zu stellen, die diesen Protest überhaupt erst notwendig gemacht haben.

Wer politische Kommunikation nur noch daran misst, ob sie höflich genug klingt, verkennt, dass Wut manchmal die einzige Sprache ist, die noch durchdringt. Der soziale Friede in Luxemburg wird nicht durch ein Flugblatt gefährdet. Er wird gefährdet, wenn man auf wichtige Stimmen nur noch mit leisem Abwinken reagiert.

Was es braucht, ist mehr als PR. Es braucht Politik, die zuhört statt beschwichtigt. Die erklärt statt etikettiert. Und die begreift, dass Gerechtigkeit kein Slogan ist – sondern eine tägliche Aufgabe. Eine, die man demokratisch aushandelt – auch wenn das nicht in den Zeitplan jener passt, die Politik lieber wie ein Projekt mit Deliverables und KPIs behandeln.

Stephen De Ron ist Vizepräsident der Grünen im Ausschuss der Regionen und Gemeinderat in Hesperingen
Stephen De Ron ist Vizepräsident der Grünen im Ausschuss der Regionen und Gemeinderat in Hesperingen Foto: Editpress/Julien Garroy
John G.
30. Juni 2025 - 21.54

@ Charel: Merci dofir, dass Dir esou’ eng héiflech Formuléierung fond hud. Waat ech selwer wollt äntwerten, wir wuel net publizéiert gin ;)

Charel
30. Juni 2025 - 9.11

@Philippe:
Merci Philippe, Mir haaten bal vergiess, datt esou explizit Hassdiscouren wéi ären virun 90 Joer zur komplett Zerstéirung vun Europa gefouert hunn. Dir fuerdert eis nees op, mat ären léiwen Wieder, et ni ze vergiessen. Well done!

Justine
29. Juni 2025 - 16.24

Déi Arroganz am Artikel vum LW huet mech och schockéiert. Dat weist ganz kloer, dass verschidden Politiker total an enger 'Bulle' liewen. Dat wat am LW geschriwwen ginn ass, ass populistesch, an net dat wat Syndicaten zu recht mat ganz vill Courage an Clairvoyance fir all Matbierger organiséiert hunn.

Philippe
29. Juni 2025 - 9.36

Vun 2013 bis 2023 hun Die GRENG AN HIER ROUD KOLLEGEN neischt absolut neischt gemaach ausser Bauen Aarbecht etc mei deier gemaach fir Klima ze retten seit Joren gett durfir bezuelt an Resultat ass NULL
GRENG AN ROUD ASS IWERFLESSEG ZU LETZEBUERG

JJ
29. Juni 2025 - 8.58

"Wir probieren das jetzt einmal aus,und wenn niemand etwas sagt,machen wir einfach weiter." JCJ