Es war eine illustre Runde, die der russische Präsident Wladimir Putin am Abend des Tages zu sich in den Kreml geladen hatte, an dem er in den Morgenstunden der Ukraine den Krieg erklärt hatte. Er nannte das freilich nicht Krieg. Für die russische Führung läuft der Angriff auf ihr Nachbarland unter dem beschönigenden Begriff „militärische Spezialoperation“, eine gewissermaßen sterile und unblutige Angelegenheit, auch wenn das russische Verteidigungsministerium in diesen Tagen seit Beginn der Kämpfe die Zahl der getöteten und verletzten Soldaten zum ersten Mal bekannt gab.
Putin also saß, wie üblich in den vergangenen Monaten, weit entfernt von seinen Gästen: 37 Unternehmern, die er um „solidarische Zusammenarbeit mit der Regierung“ bat und sie so in seinen Bann holte. Den Bann der Verantwortung für diesen Krieg. Das hatte er bereits mit seinen Ministern und Beratern einige Tage zuvor gemacht und Russland und der Welt vor laufenden Kameras vorgeführt, wie sein Herrschaftssystem funktioniert: Er allein entscheidet. Er allein bestraft, sollten die anderen ihm nicht nach dem Mund reden.
Auch ein Luxemburger Honorarkonsul saß im Saal
Andrej Kostin saß da, der Chef der WTB-Bank, Pjotr Awen, einer der Chefs der Alfa Bank, Andrej Akimow, der Verwaltungsratspräsident der Gazprobank. Banken, die nun auf Sanktionslisten stehen. Miller, Setschin, Mordaschow, der auch Honorarkonsul Luxemburgs in der Stadt Tscherepowez ist, Potanin, Kerimow. Es sind Namen von Russlands reichsten Männern. Von Russlands Männern mit der Verbindung zum engsten Machtzirkel. Wie eng aber ist diese Verbindung? Wie einflussreich? Lediglich ein positiver Coronatest hätte die Großunternehmer vor diesem Treffen im Kreml ferngehalten. Niemand von ihnen stand auf, niemand von ihnen wagte es auch nur zu widersprechen, als Putin sein Mantra von „Sie hatten uns keine Chance gelassen, anders zu reagieren, andere Maßnahmen waren unmöglich“ auch hier wiederholte. „Sie“, das ist der Westen.
Die Oligarchen blieben stumm. Bis sich dann Michail Fridman meldete, ein paar Tage später, in einer englischen Zeitung. Und Oleg Deripaska, zunächst in seinem Telegram-Kanal und auf einem Wirtschaftsforum in Krasnojarsk, Sibirien. Auch Oleg Tinkow bei Instagram. Fridman, mit seiner Alfa Bank und auch persönlich auf der Sanktionsliste, sprach von einer „Tragödie“, Tinkow, der Gründer der Tinkoff-Bank, schrieb, der tägliche Tod unschuldiger Menschen in der Ukraine sei undenkbar und inakzeptabel. Deripaska, der durch frühere Sanktionen 80 Prozent seines Vermögens verloren hatte, forderte Frieden und sagte: „Nehmen wir die Krise von 1998 und multiplizieren sie mit drei. Eine solche Herausforderung hatten wir noch nie.“ Ein Ende des Staatskapitalismus müsse her.
Vorsichtige Worte der Kritik. Sehr vorsichtige.
Es sind vorsichtige Worte der Kritik. Sehr vorsichtige. Denn Fridman, Deripaska und die anderen sogenannten Oligarchen sind ein Teil des Putinschen Herrschaftssystems, das den Kreis der Wirtschaftsmagnaten längst verstaatlicht hat. Sie lavieren vielmehr zwischen dem Westen und Russland. Ob die Oligarchen Putin zum Verhängnis werden können? Oder die Sanktionen deren Symbiose mit dem Kreml noch verstärkt?
Die gesetzlose Herrschaft der Reichen, die nur an ihrem Eigennutz interessiert sind, so Platons Verständnis von Oligarchie, sie hat im Russland der vergangenen Jahre an dieser Bedeutung eingebüßt. „Oligarch“ ist ein Etikett, das an jedem russischen Magnaten klebt, der sein Vermögen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gemacht hat. Mit unfairen, aber nicht illegalen Methoden. Sie waren gerissen genug, aus den sich bietenden Möglichkeiten, die Gorbatschows Perestroika-Politik mit sich brachte, das für sich Beste herauszuholen.
Die ersten Geschäfte machten sie – meist kannten sie sich aus der kommunistischen Jugendbewegung – durch verschiedene Formen der sogenannten Arbitrage-Modelle: Weil die Preise, die während der sowjetischen Planwirtschaft festgeschrieben waren, in den ersten Jahren der wirtschaftlichen Reformen nur allmählich freigegeben wurden, entstand ein Nebeneinander von niedrigen und hohen Preisen für ein und dieselbe Ware. Also kauften sie – Menschen wie Michail Chodorkowski, wie Boris Beresowski, wie auch Michail Fridman – Produkte bei Staatsbetrieben zu niedrigen Preisen und verkauften sie auf dem immer freier werdenden Markt zu hohen Preisen.
Mit Privatisierungsprogrammen Mitte der 1990er Jahre nutzten sie die Intransparenz dieser, kauften Staatsaktiva und machten ein Vermögen damit, vor allem im Rohstoffsektor. Zwischen 1994 und 1996 gelangten so die größten Industrieaktiva Russlands in private Hände. Boris Jelzin setzte immer mehr auf die Oligarchen, um die schwer angeschlagene russische Wirtschaft zu stabilisieren – und gab sich, von Alkohol angeschlagen, schließlich auch politisch in deren Hände. „Jelzins Familie“ entstand. Die Kapitalisten des neuen Systems finanzierten seinen Wahlkampf 1996 und teilten die Macht untereinander auf.
Die Privatisierung gilt bis heute vielen Menschen im Land als das Böse schlechthin. Darauf baute auch Wladimir Putin, als er, kaum im Kreml, mit den Oligarchen abrechnete. Er nutzte die vermeintlich Mächtigen und ließ ihnen wirtschaftliche Freiräume – unter einer Bedingung: sich bitte nicht in die politischen Entscheidungen einzumischen.
Geiseln des Systems, das sie selbst erschaffen haben
Letztlich aber war nicht die Privatisierung allein das Problem der 1990er Jahre, sondern vor allem das Fehlen unabhängiger staatlicher Institutionen, ohne die eine Marktwirtschaft nicht funktioniert. Als Chodorkowski, zu Reichtum gekommen, genau in diese Kerbe einschlug, war er weg vom Fenster. Konstruierte Gerichtsverfahren, Strafkolonie, Beschlagnahmung seines Unternehmens. Niemand im Oligarchenkreis hat das vergessen.
Was für Jelzin seine „Familie“ war, sind für Putin seine Datschenfreunde von „Osero“ (See). In der Siedlung unweit von Sankt Petersburg legte der russische Präsident den Grundstein für seine Macht. Alte Weggefährten Putins, Regierungsmitglieder, Staatsangestellte sind mittlerweile die neuen Oligarchen, sie profitieren vom wenigen Wettbewerb innerhalb Russlands. Ihre Namen: die Gebrüder Rotenberg, Roman Abramowitsch, Juri Kowaltschuk. Die Verflechtung von Macht und Kapital ist so eng, dass sie es nicht wagen würden, Putin zu widersprechen, selbst wenn sie zu widersprechen hätten – was in Fragen der Ukraine unwahrscheinlich ist. Verschachtelte Strukturen machen sie letztlich zu Geiseln des Systems, das sie selbst erschaffen haben: eines nicht rechtsstaatlichen Systems, ohne funktionierende Institutionen. Die Verzahnung hat feudalistische Strukturen angenommen, und die nächste Generation – es sind vor allem Söhne von Putins Freunden – ist bereits nachgewachsen.
De Maart
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