An den Wänden des Büros hängen Post-it’s, Kinderzeichnungen und die neuen Plakate zum „Kulturpass“. „Zum 15. Jubiläum haben wir unsere visuelle Identität überarbeitet“, sagt Marianne David, seit 2019 Kommunikationsbeauftragte des Vereins Cultur’all. Sie zeigt auf die Poster in Neonfarben. Das Tageblatt trifft sie und ihren Kollegen Luis Santiago wenige Tage vor der Jubiläumsfeier am heutigen Donnerstag. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. „In der Regel fördern wir die Events unserer kulturellen Partner. Jetzt ist es an der Zeit, uns selbst sowie die Partnerschaften, die in den vergangenen Jahren entstanden sind, zu feiern“, freut David sich.
Cultur’all lancierte den „Kulturpass“ 2010: Seitdem haben Menschen mit geringem Einkommen Anspruch auf den Pass. Sie können das Angebot von 115 Partnerorganisationen aus dem Kultur- und Freizeitbereich für 1,50 Euro nutzen. Der Eintritt in Museen ist für die Mitglieder kostenlos. Santiago, sozio-kultureller Vermittler, ist der erste Festangestellte von Cultur’all, gegründet 2008. Bevor Santiago seine Stelle 2012 antrat, kümmerten sich Freiwillige um den „Kulturpass“. Über die Jahre hinweg habe sich das Projekt weiterentwickelt und verändert, sagt er. Santiago spricht von Ideen, mit denen der Verein scheiterte, und über gefundene Lösungen.
In fünfzehn Jahren habe der Verein viele der gesteckten Ziele erreicht, doch die Armut mache davor keinen Halt. Im Gegenteil. 2010 lag das Armutsrisiko in Luxemburg bei rund 13 Prozent. Heute sind fast 19 Prozent der Bevölkerung von Armut bedroht (Quelle: Statec). „Wir stoßen ständig auf neue Personengruppen, die von Armut betroffen sind“, bestätigt Santiago. Cultur’all begegnet dem mit erweiterten Auswahlkriterien und 55 Sozialpartnerschaften, darunter auch Organisationen wie die APEMH oder der „Centre psycho-social et d’accompagnement scolaires“. Die wachsende finanzielle Prekarität wirkt sich derweil auch auf die Nutzung des Kulturangebots aus: Nach der Studie „La vie culturelle au Luxembourg“ (2025) halten die Ticketpreise für Kulturevents 23 Prozent der Befragten davon ab, sich am Kulturleben zu beteiligen.
Wer den „Kulturpass“ nutzt
Raphael Tanios, Künstler, könnte einer davon sein. Er ist Maler, verdient sich im Théâtre du Centaure – Partner von Cultur’all – etwas dazu. Tanios bezieht die „allocation à la vie chère“ und nutzt den „Kulturpass“ seit 2016. „Ohne ‚Kulturpass‘ könnte ich nicht am Kulturleben teilnehmen“, hält er im Telefonat mit dem Tageblatt fest. „Ich könnte mir das nicht leisten.“ Als Künstler legt Tanios Wert auf den freien Zugang zu Kultur: Der Eintritt zu seinen bisherigen Ausstellungen war frei. Eine bewusste Entscheidung, hebt er hervor: „Der Austausch mit dem Publikum ist mir wichtiger als das große Geld. Ich bin nicht nur auf den Verkauf meiner Werke aus.“ Ist er damit eine Ausnahme unter luxemburgischen Kunstschaffenden? „Ich glaube nicht“, meint er. „Wir müssen über die Runden kommen, doch nicht auf Kosten eines mittellosen Publikums – zumal wir selbst oft in der Prekarität leben. Der Zugang zu Kultur ist ein Menschenrecht.“
Ohne ‚Kulturpass‘ könnte ich nicht am Kulturleben teilnehmen
Davon machen immer mehr Menschen Gebrauch, merkt Tanios: „Im Theater nehmen die Reservierungen von ‚Kulturpass‘-Mitgliedern stark zu.“ Ähnliches berichten Marianne David und Luis Santiago. Besonders nach der Covid-Pandemie und dem Zuzug ukrainischer Schutzsuchenden 2022 sei die Nachfrage hoch. Ein weiterer Grund für das steigende Interesse sei die bereits erwähnte Ausweitung der Zulassungskriterien. Die Zahlen des Vereins sprechen Bände: 2022 wurden 2.863 Kulturpässe vergeben, in den zwei Folgejahren waren es über 5.500. Letztes Jahr besaßen insgesamt 11.000 Personen einen „Kulturpass“ und nutzten ihn regelmäßig: In dem Zeitraum wurden 11.345 Eintrittskarten mittels „Kulturpass“ erworben.
Politische Unterstützung …
Beim Publikum kommt der Pass also an, aber wie verhält es sich mit der Politik? Der „Kulturpass“ überstand vier Regierungswechsel, trotzdem fehlt es laut David und Santiago seit Beginn an einem interministeriellen Austausch. Das schlägt sich in der staatlichen Förderung des Vereins nieder: Nur das Kulturministerium finanziert Cultur’all. Dabei können Menschen mit dem „Kulturpass“ beispielsweise auch die „Escher Schwemm“ zum vergünstigten Tarif besuchen. David und Santiago wissen: Die Nachfrage nach einem „Sportspass“ ist groß; hierzu stehen sie im Austausch mit dem Sportministerium.
Im Kulturpodcast „Um Canapé mat der woxx“ äußerten die beiden 2023, kurz vor den Parlamentswahlen, Wünsche an die neue Regierung – eine stärke interministerielle Zusammenarbeit und mehr Ressourcen. Nur einer davon wurde wahr: Das Budget von Cultur’all verdoppelte sich von 2023 auf 2024; dieses Jahr beträgt es insgesamt 321.000 Euro. Das Kulturministerium stellt eine Erhöhung für 2026 in Aussicht. Wie hoch die ausfalle, hänge vom Staatsbudget ab, schreibt die Pressestelle des Kulturministeriums auf Nachfrage des Tageblatt. Die Ressourcen wurden bisher für die Verstärkung des Teams, die Kommunikation und die angestrebte Digitalisierung des „Kulturpass“ verwendet.
11.345
Eintrittskarten wurden 2024 mittels „Kulturpass“ erworben
Damit lässt Kulturminister Eric Thill (DP) seinen Worten Taten folgen: 2024 zählte er den Zugang zu Kultur im Interview mit dem Tageblatt zu seinen Prioritäten. Beim Neujahrsempfang wiederholte er: „Ich wünsche mir, dass wir (…) in den kommenden Monaten und Jahren verstärkt über das Publikum von morgen nachdenken und uns intensiv mit der Frage der Zugänglichkeit auseinandersetzen.“ Theoretisch passt das zu den Bestrebungen des Staats: Die Armutsbekämpfung ist ein erklärtes Ziel der Regierung unter Premier Luc Frieden (CSV). Zum Jahresende soll Luxemburgs erster „Plan d’action national de prévention et de lutte contre la pauvreté“ stehen. In dem interministeriellen Komitee zur Vorbeugung und Bekämpfung von Armut, das im Januar einberufen wurde, ist das Kulturministerium aber nicht vertreten.
… in Maßen
Ungünstig, denn: Jede fünfte Person, die in Luxemburg im Kultursektor arbeitet, ist freischaffend (Quelle: „L’emploi dans le champ culturel“, 2020) – und viele davon befinden sich, wie Tainos, wegen unregelmäßiger Einnahmen sowie den hohen Lebenskosten oft an der Armutsgrenze. Gleichzeitig dient Kultur als Türöffner. „Menschen, die sich ausgegrenzt fühlen, erlaubt der Besuch kultureller und gemeinschaftsbildender Orte eine Weiterbildung und die Möglichkeit der Wiedereingliederung“, schreibt eine Erzieherin des „Foyer Henri Dunant“ über die Nutzung des „Kulturpass“. Das Zitat ist im Pressedossier zum 15. Jubiläum von Cultur’all nachzulesen.
Das Kulturministerium teilt diese Ansicht scheinbar: 2024 schrieb es Fördermittel für Projekte aus, die den „accès à la culture“ vorantreiben. Zurzeit schreitet zudem die Ausarbeitung eines entsprechenden Aktionsplans voran. Letzterer entsteht unter anderem im Austausch mit dem Kultur- und dem Sozialsektor, aber auch im Zuge der nächsten „assises culturelles“ im Juni. „Die Barrieren, die Menschen von einer Teilnahme am Kulturleben abhalten, reichen jedoch über den Sektor hinaus“, heißt es vonseiten der Pressestelle des Kulturministeriums.
Geringverdienende seien öfter auf den öffentlichen Transport angewiesen, würden länger arbeiten, könnten seltener auf Kinderbetreuung und Haushaltshilfen zurückgreifen. Hinzu kämen Sprachbarrieren und das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Nicht alle wüssten um ihr Recht auf einen „Kulturpass“, seine Sichtbarkeit gehöre deswegen erhöht. „Um diese Hürden abzubauen und die nötigen Maßnahmen umzusetzen, brauchen wir sofort die richtigen Personen mit an Bord“, so die Pressestelle. „Dies betrifft die Bereiche Inklusion, Zusammenleben, Bildung, Gesundheit, aber auch die Gemeinden.“
Im krassen Gegensatz dazu steht die Politik des Innenministers Léon Gloden (CSV): Er stand in den vergangenen Monaten wegen des Bettelverbots in Luxemburg-Stadt in der Kritik. Statt mittellose Menschen in die Gesellschaft einzubinden, verscheuchen die Autoritäten sie aus dem öffentlichen Raum. „Als Privatperson, die für einen Verein arbeitet, der soziale Werte vertritt, finde ich das schrecklich“, kommentiert Santiago diese Entwicklung. „Wir sollten die Menschen einander näherbringen, statt sie aus der Öffentlichkeit zu verdrängen. Das ist keine Lösung.“ Momentan sieht es jedenfalls danach aus, als würden Marianne David und Luis Santiago Recht behalten, wenn sie sagen: „Wir wünschen uns, dass unsere Arbeit sich in den nächsten 15 Jahren erübrigt hat. Das ist utopisch, aber wir träumen weiter.“
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