Dienstag23. Dezember 2025

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Lust auf LesenVon Seenot und Giftpflanzen: Das hat es mit den neuen Romanen „Der Retter“ und „Gras“ auf sich

Lust auf Lesen / Von Seenot und Giftpflanzen: Das hat es mit den neuen Romanen „Der Retter“ und „Gras“ auf sich
Symbolbild: Auf der Seite „Lust auf Lesen“ präsentiert Thomas Koppenhagen die Romane „Der Retter“ und „Gras“ Foto: Editpress

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Ein Schiffbruch und eine giftige Pflanze: Was es damit in den Romanen „Der Retter“ und „Gras“ auf sich hat. Zwei Buchbesprechungen auf einen Blick. 

Das Verbrechen macht keine Pause: „Der Retter“ von Mathijs Deen

2016 findet ein Urlauber mit seinen beiden Söhnen in den zerklüfteten Felsen an der Küste von Nordhumberland menschliche Überreste, wobei der skelettierte Rumpf noch in einer Schwimmweste mit der Aufschrift „Pollux“ steckte. Der Anfangsverdacht der Behörden zielt infolgedessen auf das Opfer eines Schiffsunglücks, das sich in der sturmumtosten Nacht vom 3. auf den 4. März 1995 auf der Nordsee ereignete.

Mathijs Deen: Der Retter (Ein Fall für Liewe Cupido). Mare Verlag, Hamburg 2024. 384 S.
Mathijs Deen: Der Retter (Ein Fall für Liewe Cupido). Mare Verlag, Hamburg 2024. 384 S. Quelle: Mare Verlag

Damals geriet der achtzig Meter lange Seeschlepper „MS Pollux“ nahe der Düneninsel Rottumerplaat in Seenot. Obschon Schiffe der Seenotrettung von Ameland und Norderney schnell zur Stelle waren, um die Mannschaft aufzufischen, blieb Jacob Peiser, der Kapitän der Pollux, verschollen. Minutiös beschreibt Mathijs Deen in seinem neuen Roman „Der Retter“ die Vorgehensweise, die für gewöhnlich bei der Auffindung eines Ertrunkenen, dessen Identität unbekannt ist, wie ein Uhrwerk in Gang gesetzt wird. Dabei erstrecken sich die Ermittlungen über gleich drei Staaten, bzw. konzentrieren sich auf die Rettungshelfer, die 1995 bei der Bergung der Pollux-Besatzung heldenhaft gegen haushohe Wellen ankämpfen mussten. Denn die Berichte über die Schiffshavarie unterscheiden sich in einem Punkt signifikant: Während die Niederländer behaupten, dass Kapitän Jacob Peiser von den Deutschen an Bord gezogen wurde, findet sich dazu im Protokoll der Seenotretter aus Norderney kein Vermerk. Es gilt also nicht nur, durch einen DNA-Vergleich die Identität der Leiche festzustellen, sondern auch, die tatsächlichen Vorgänge in jener Nacht, als die MS Pollux sank, zu rekonstruieren.

Vom Schweigen und der Wahrheit

Im Sommer des Jahres 2016 lastet eine unerträgliche Hitze auf den Anrainerstaaten der Nordsee. „Die Vegetation leidet, die Bauern ebenfalls, und das Verbrechen macht keine Pause“, schreibt Deen und bestimmt damit auch gleich den Grundton seines hervorragenden Romans. Von mehreren Orten aus setzen sich nahezu gleichzeitig Polizeibeamte in Bewegung, um das Schicksal des Kapitäns Jacob Peiser aufzuklären. Wie in Mathijs Deens vorherigem Buch „Der Holländer“ sind Geeske Dobbenga auf niederländischer, sowie Liewe Cupito auf deutscher Seite mit von der Partie. Aber es kommen weitere Figuren ins Spiel, mit denen der Autor die gängige Hierarchie dadurch unterläuft, dass alle gleich gewichtet in seiner Erzählung auftauchen und erst zum Ende hin zentrale Charaktere herausgehoben werden. Das macht, man muss es eingestehen, die Lektüre erst einmal ungewöhnlich, auch schwierig. Dann aber, wenn wir neben Geeske und Liewe auch den Neulingen Yildiz Deniz auf Norderney oder Xander Rimbach zwecks DNA-Abgleich bei Besuchen von Jacob Peisers Witwe in Flensburg und deren Tochter in Hamburg folgen, beginnt sich ein Leitmotiv abzuzeichnen. Dem Autor scheint es um das Verhältnis von Schweigen und Lügen zu gehen, bzw. um eine parallel angeordnete Konfiguration von Wahrheit, die ohne Worte nicht auskommen kann.

Autor von „Der Retter“: Mathjis Deen
Autor von „Der Retter“: Mathjis Deen  Foto: Mathias Bothor/Quelle: Mare Verlag

Daran anschließend gibt es eine ganze Reihe von Momenten, die in Deens Roman diesen beiden Ausgangspositionen zugeordnet werden können. Sei es das Schweigen aus Angst vor den Folgen von Gesagtem, sei es ein Verstummen aufgrund falsch verstandener Solidarität, die wiederum einem alten, überkommenen Ehrenkodex unter Seenotrettungshelfern geschuldet ist. Oder sei es auch die Entscheidung, nicht die Wahrheit zu sagen, weil man sich dadurch die Absicherung des Status quo erhofft, das Zementieren von Verhältnissen, die längst hätten verändert werden müssen. Wichtig scheint in Deens Prosa auch die Herausarbeitung eines Punktes zu sein, den man Lügen durch Schweigen nennen könnte – und die Folgen, welche diese passive Art von Unwahrheit nach sich zieht. Der Gegenentwurf dazu findet im Finale seinen Platz, wenn der wortkarge Liewe Cupido endlich vom Gefühl der Schuld am Unfalltod seines Vaters spricht. Aber der Frage, ob sich mit diesem Reden die Perspektive auf eine neue oder andere Wahrheit eröffnet, dürfte Mathijs Deen vielleicht in seinem nächsten Roman nachgehen.


Das Leben danach: „Gras“ von Bernhard Kegel

Bernhard Kegel: Gras. Dörlemann Verlag, Zürich 2024
Bernhard Kegel: Gras. Dörlemann Verlag, Zürich 2024 Quelle: Dörlemann Verlag

„Ich habe mal einen Hund in so einer Wolke ersticken sehen. Sie war nur so groß wie ein Lkw und nicht ganz so dicht wie die von heute, so dass ich alles erkennen konnte. Wie eine Amöbe schwappte sie unberechenbar mal hier-, mal dorthin.“

Harmlos fängt es mit ein paar Hälmchen einer bislang unbekannten Pflanze an, die sich auf einem Berliner Platz zwischen Steinplatten ins Freie durchzwängt, Sträucher, Büsche und ganze Graswälder bildet, denen kein Herbizid etwas anhaben kann. Die Biologin Natalie nennt das Gras „Invicta“ – unzerstörbar, weil selbst Flammenwerfer das Grünzeug zu noch mehr Wachstum anzustacheln scheinen. Schließlich wird Berlin evakuiert und die Großstadt komplett von dem Unkraut überwuchert. Die Wenigen, die wie Natalie geblieben sind, müssen sich gegen wilde Hunde zur Wehr setzen und auch sonst um ihr Leben fürchten. Giftige Wolken ziehen durch die Straßen, die so dicht mit dem zwei Meter hohen, scharfkantigen Gras bewachsen sind, dass nur noch über schmale Trampelpfade ein Weiterkommen möglich ist.

Bernhard Kegel hat einen dystopischen Roman verfasst, der sich vor allem mit dem Alltag nach der Apokalypse beschäftigt. In Rückblenden wird erzählt, wie es zur Katastrophe kommen konnte. Zur Ich-Erzählerin Natalie gesellt sich noch das verwaiste Mädchen Marie. Beide bilden eine Schutzgemeinschaft inmitten einer unwirtlich gewordenen Welt.

Der Autor von „Gras“, Bernhard Kegel
Der Autor von „Gras“, Bernhard Kegel Foto: Barbara Dietl/Quelle: Dörlemann Verlag

Kegels „Gras“-Roman räumt gehörig mit der romantischen Vorstellung vom Untergang einer Zivilisation – Peng! Auf einen Schlag weg! – auf. Stattdessen lesen wir von Siechtum und von Menschen, die sich aneinander klammern, um nicht unterzugehen. Inmitten des Desasters bauen sie Zwiebelknollen an, halten Ausschau nach der Sonne, die gelegentlich durch den giftigen Dunst dringt. Ja, trotz allem geht das Leben weiter und bleibt der Überlebensinstinkt der Menschen intakt! Spätestens, wenn ein Mammut unvermittelt aus dem Unterholz hervorbricht, um sich Natalie und Marie anzuschließen, hat Bernhard Kegels Buch die Grenze von Science Fiction zum Fantastischen überschritten. Genauso gut könnten Revue-Girls mit Straußenfedern auf dem Kopf und Beine schwingend die Berliner Spree hinunter schippern. Der Effekt wäre der gleiche, die garstige Realität märchenhaft verklärt und Erlösung greifbar nah! Aber selbst das könnte man Bernhard Kegel und seinem sehr guten, weil eigensinnigen Berlin-Roman nicht wirklich übel nehmen.