RückblickVon Macht und Kontrolle: Die Filme im Hauptwettbewerb des 80. Filmfestivals in Venedig

Rückblick / Von Macht und Kontrolle: Die Filme im Hauptwettbewerb des 80. Filmfestivals in Venedig
Der silberne Löwe ging an den japanischen Regisseur Ryûsuke Hamaguchi für „Evil does not exist“ Foto: AFP/Tiziana Fabi

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Über das Verhältnis von Macht und Kontrolle, von Harmonie und Störung erzählte eine Vielzahl der Filme, die im Hauptwettbewerb der diesjährigen Filmfestspiele von Venedig gezeigt wurden, die am vergangenen Samstag zu Ende gingen. Ein Überblick.

„Evil Does Not Exist“ des japanischen Regisseurs Ryûsuke Hamaguchi eröffnet mit poetischen Bildern – es ist ein natürlicher Ablauf des Menschen im Einklang mit der Natur, der da gezeigt wird, bis das Großkapital den harmonischen Frieden stört. Vater und Tochter wohnen in einem kleinen abgelegenen Dorf, dessen Bewohner mit der Errichtung von Glamping-Unterkünften konfrontiert werden. Dramaturgisch ist das Konfliktpotenzial des Films klar benannt und strebt gar nicht erst nach einem höheren Komplexitätsgrad, den „Drive My Car“ noch ausmachte. Es ist umso mehr die Sensibilität der Handschrift Hamaguchis, die diesen Film zu einem zuvorderst visuellen, meditativen Film macht, allerdings nicht rein über die Bilder, auch gibt er Anreiz zu Überlegungen über die Gefahren eines ökologischen Ungleichgewichtes. „Evil Does Not Exist“ wurde am vergangenen Samstag mit dem „Großen Preis der Jury“ ausgezeichnet und auch mit dem Fipresci-Preis versehen.

Der japanische Regisseur Ryûsuke Hamaguchi
Der japanische Regisseur Ryûsuke Hamaguchi  Foto: AFP/Tiziana Fabi

Mit „Adagio“ wandelt der italienische Regisseur Stefano Sollima auf den Spuren der dunklen Ästhetik der italienischen Unterwelt, so wie der Kollege Matteo Garrone sie mit „Gomorrha“ (2009) aufgemacht hat: Dieser Thriller rund um eine gestörte Vater-Sohn-Beziehung, um korrupte Polizisten und desillusionierte Verbrecher bietet festes Genrekino, dessen Vorbilder mitunter bei William Friedkins „Cruising“ (1980) oder noch Brian de Palmas „Carlito’s Way“ (1993) auszumachen sind. Sollimas Film wartet mit den bekannten Thriller-Elementen der Beschleunigung und Wendungen auf – eine Geschichte um Paranoia, Kontrollwahn auf der Seite der korrupten Polizeibeamten, um Reue, Vergebung, ja Erlösung bei den Gangstern, die Sollima in dunkler Noir-Ästhetik stimmungsvoll heraufzubeschwören weiß.

Banalität des Bösen

Um das Abrufen von klassischen Genrevorbildern geht es auch Bradley Cooper in „Maestro“, der filmischen Aufarbeitung der Karriere Leonard Bernsteins (Cooper) und der Beziehung zu seiner Frau, der Schauspielerin Felicia Montealegre (Carey Mulligan). Allein schon, weil er von Hollywood-Größen wie Steven Spielberg und Martin Scorsese mitproduziert wurde, ist der Gestus der allumfassenden Würdigung dieses Künstlers dem Film deutlich anzumerken: Der Film versteht sich offenkundig als Huldigung, die um die frenetische Raserei und unerschöpfliche Leidenschaft des Künstlergenies kreist, dafür lange Konzertaufnahmen bemüht. Was da fehlt, ist das, was man vielleicht als den Funken bezeichnen kann. Was Cooper an der Figur zu interessieren scheint, sind seine Phasen der Exzentrik, die durch die Stimme seiner Frau immer wieder ausbalanciert werden, dabei erreicht der Film auch in dieser Hinsicht nur selten Momente der Treffsicherheit, weil Cooper beständig darum bemüht ist, den Gefühlsrausch großer klassischer Hollywood-Melodramen zu evozieren.

Pablo Larraíns „El Conde“ bekam den Preis für das beste Drehbuch
Pablo Larraíns „El Conde“ bekam den Preis für das beste Drehbuch Foto: AFP/Tiziana Fabi

Pablo Larraín versucht, nach den bemerkenswert eigenwilligen und nahezu rauschhaften Frauenporträts „Jackie“ (2015), „Ema“ (2019) und „Spencer“ (2021) in „El Conde“ sich des Diktators Augustin Pinochet anzunehmen und dafür das Register zu wechseln. Um mit dieser übergroßen historischen Persönlichkeit abzurechnen, begibt sich Larraín auf das Terrain der Satire und macht ihn zum blutrünstigen Vampir – eine Abwandlung der Dracula-Geschichte, die sich vor allem mit dem frei erdachten Nachleben des Diktators beschäftigt. Seinen Tod hat er nur vorgetäuscht und nach dem Ende des Terrorregimes in Chile hat er sich in einer ganz desolaten ruralen Gegend niedergelassen. Mit dem Gestus einer mythischen Überhöhung hat „El Conde“ freilich nichts gemein, mehr geht es Larraín um die Banalität des Bösen, die Absurdität des absoluten Machtanspruchs, indes scheinen diese Ansätze nicht weiter vertieft worden zu sein. Pinochet zum Vampir zu machen, heißt auch, dass er zur Unsterblichkeit gefunden hat, er also gleichsam nicht wegzudenken ist aus der chilenischen Öffentlichkeit und aus der Weltpolitik. Als politischer Film fehlt es hier aber an der Schärfe, zumal diese Komponenten nicht mitgedacht werden. Die spannende Grundkonstellation der Figuren und das Horrorkino als sichtbare Bezugsquelle verdichten Ideen, die allerdings nicht mit der nötigen Konsequenz zu Ende geführt werden. Umso erstaunlicher, dass gerade dieser Film des Wettbewerbs den Preis für das beste Drehbuch erhielt.

Die US-Schauspielerin Cailee Spaeny wurde für ihre Darbietung in „Priscilla“ mit dem Preis der besten Schauspielerin ausgezeichnet
Die US-Schauspielerin Cailee Spaeny wurde für ihre Darbietung in „Priscilla“ mit dem Preis der besten Schauspielerin ausgezeichnet Foto: AFP/Gabriel Bouys

Nicht Werbezwecke, sondern eher Dekonstruktion bestimmt den neuen Film von Sophia Coppola. Man kommt kaum umhin, „Priscilla“ von Sophia Coppola als Gegenstück des Elvis-Biopics von Baz Lurmann zu lesen: Basierend auf den Memoiren der damaligen Ehefrau von Elvis Presley ist es diese entschiedene Fokussierung auf die Erlebniswelt der Frau an der Seite des Stars, die den Blick auf den größeren Sinnzusammenhang über die ausbeuterischen Tendenzen des Showgeschäfts ausspart: So wie Tom Hanks als Colonel Parker Elvis zu einem Produkt der Unterhaltungsindustrie machte, so formt Elvis in „Priscilla“ die Frau zum Produkt seiner Wunschfantasie. Seine dabei immer stärker anklingenden psychopathischen Züge – die Manipulation, die die Frau in die Isolation führt, um so die totale Kontrolle über sie zu erhalten, rücken Coppolas Film auch in die Bilderwelt des Gangsterfilms von Martin Scorsese: Die Verführungsstrategie, die Elvis anwendet, ist eine direkte – freilich ungemein gekürzte – szenische Hommage an die virtuose Kamerafahrt von Michael Ballhaus in „Goodfellas“. Die Elvis-Figur hier ebenso als Opfer der Unterhaltungsbranche zu sehen, bleibt konsequenterweise nur zitathaft, immer aber sind diese Impulse der Auslöser für ein immer gestörteres Eheverhältnis. Coppolas besondere Haltung besteht darin, dass sie dieser Priscilla ihre Würde lässt, ihr Blick ist nicht der der Mitleidserregung, vielmehr fokussiert sie das Machtgefälle in einer Künstler-Fan-Beziehung. Die Schauspielerin Cailee Spaeny konnte für ihre Leistung den Preis als beste Schauspielerin für sich beanspruchen.

Plakativität ist wohl auch das künstlerische Programm von Yorgos Lanthimos‘ „Poor Things“: Mit dieser Neuinterpretation von Mary Shelleys „Frankenstein“-Erzählung zu einer Form des feministischen Bildungsromans hat der vielversprechende griechische Filmemacher die Radikalität, die Ambivalenz und die Subversion früherer Werke aufgegeben zugunsten einer breiten, publikumswirksamen Anbindung an das kommerzielle Hollywood-Kino. Darin begleiten wir die neugeborene Bella (Emma Stone), zusammengesetzt aus dem Gehirn eines Kleinkindes und einem erwachsenen Frauenkörper – das Resultat des akribischen Wissenschaftlers Baxter (Willem Dafoe). Alles Gezeigte in diesem ungemein imposant-skurrilen Bilderreigen muss da über den Dialog obendrein nochmals affirmiert werden. Lanthimos‘ Film erschöpft sich schnell in diesem Spiel der ganz ironisch gemeinten beständigen Dopplung der Aussage, dessen zynisch schwarzer Humor sich als engagierte Subversion ausgibt, nur um zu kaschieren, dass er mehr Teil der gegenwärtig modisch-feministischen Hollywood-Pädagogik ist, die zuvorderst konsensstiftender Werbezweck ist. In seinen stärkeren Momenten aber ist es auch ein Bild der Idealvorstellung des Einzelnen in der Gesellschaft: frei, Grenzen und Regeln, besonders Benimmregeln, missachtend; darin liegt der tiefere Humanismus von Yorgos Lanthimos. Nur so scheint erklärlich, warum „Poor Things“ den Goldenen Löwen als bester Film erhalten konnte. Augenfällig am Zeitgeist orientiert, funktioniert dieser Film als „crowd pleaser“ und dürfte noch bessere Chancen bei der noch kommerzieller ausgerichteten Oscar-Verleihung haben.

Veteranen außer Konkurrenz: Polanski, Allen, Friedkin

Roman Polanski dürfte beim Festival mehr aufgrund seiner äußerst umstrittenen Persönlichkeit auffgefallen sein, als mit seinem neuen Film, der außer Konkurrenz gezeigt wurde: „The Palace“ ist die Geschichte einer ganz illustren Hotelgesellschaft irgendwo in den Schweizer Alpen zur Jahrtausendwende. Ein Film der szenischen Eindrücke, die auf die Skurrilität und Absurdität alles Gezeigten drängen, dabei aber als bissige Gesellschaftssatire der extravaganten Reichen seltsam überholt erscheint, angesichts der Drastik, mit der der schwedische Regisseur Ruben Östlund operiert. Es ist allerdings anzunehmen, dass hinter diesem Chaos aus Tabubrüchen und der beständigen humoristischen Selbstunterbietung ein provokatives Kalkül steckt – man möchte fast meinen, Polanski habe seinen Kritikern und Gegnern vorsätzlich einen schlechten Film vorsetzen wollen.

Schauspieler Oliver Masucci in einer Szene des Films „The Palace“ von Regisseur Polanski
Schauspieler Oliver Masucci in einer Szene des Films „The Palace“ von Regisseur Polanski Foto: dpa/Malgosia Abramowska

Woody Allens „Coup de chance“ ist eine Rückkehr zu den Erfolgsmustern früherer Werke des neurotischen Filmemachers: Eine Zufallsbegegnung in den Straßen von Paris – zwei ehemalige Schulkameraden, Fanny (Lou de Laâge) und Alain (Niels Schneider), finden sich wieder und beginnen eine Affäre. Ihr Ehemann Jean (Melvil Poupaud) ist der Inbegriff des äußerlich suaven Franzosen, innerlich der kalte Geschäftsmann, dem jedes Mittel Recht ist, seine Ziele zu erreichen; einer, der bezeichnenderweise meint, er könne über Zufälle triumphieren und sein Glück selbst herbeiführen. Die Situation spitzt sich zu, als Jean den Verdacht hegt, seine Frau betrüge ihn … Glückstreffer – so ließe sich Allens neuer Film womöglich adäquat übersetzen. Chance meint aber auch Zufall, Coup meint auch Streich und Schuss – Allens Film ist amüsant entlang dieser Wortspielerei gestrickt. Seine überaus spannende Ambition, das Genre der romantischen Komödie in die Gefilde des Thrillers überlaufen zu lassen, macht aus „Coup de chance“ augenscheinlich ein Kompositum seiner früheren Filme, die er nun im Pariser Setting entfaltet. Vor allem „Matchpoint“ (2005) kommt da in den Sinn. Die Kameraarbeit, die Lichtsetzung, der weiche Schnitt, die Musik – seine filmsprachlichen Mittel setzt „Coup de chance“ ganz in den Dienst der Rundung des Erzählflusses. Allen setzt eine audiovisuelle Dynamik frei, die seine Erzählung rund um Glück, Zufall, Schicksal – getränkt in Allens typisch überbordende Romantik, seine ganz positive Naivität, die an das Gelingen der Kommunikation glauben will – stilsicher zu ihrem Ziel führt.

Vollkommen in der Reduktion und der Zurückhaltung inszeniert der kürzlich verstorbene William Friedkin „The Caine Mutiny Court-Martial“, ohne dabei seine Stilsicherheit verloren zu haben: Basierend auf dem Roman von Herman Wouk und als Remake des Klassikers von 1954 mit Humphrey Bogart unter der Regie von Edward Dmytryk angelegt, erzählt diese Adaption, deren Handlung im Jahr 2022 und nicht im Zweiten Weltkrieg angesiedelt ist, von einem Kriegsgericht über einen Marineoffizier namens Maryk (Jake Lacy), dessen Entscheidung, seinen Vorgesetzten, Commander Queeg (Kiefer Sutherland), abzulösen, von der Anklage als Meuterei gewertet wird. In klassischer liberal-humanistischer Manier wird der Fall zugunsten einer Gruppe von Personen entschieden, aber die endgültige moralische Abrechnung lässt sich nicht so einfach auf ein binäres Urteil reduzieren – eine fundamental irritierende Ambivalenz, wir sind immerhin bei Friedkin, bleibt am Ende bestehen. Betrachtet man zudem diese drei Veteranen-Filme formalästhetisch, so möchte man meinen, dass gerade Friedkin mit seinem minimalistischen „The Caine Mutiny Court-Martial“ beweist, dass er niemandem etwas zu beweisen hat. Nun auch über seinen Tod hinaus. William Friedkin ist ein Filmemacher für die Ewigkeit.