EditorialVom Protest gegen das Bettelverbot zur Anti-AfD-Demo: Die Zivilgesellschaft bewegt sich

Editorial / Vom Protest gegen das Bettelverbot zur Anti-AfD-Demo: Die Zivilgesellschaft bewegt sich
„Wir brauchen euch, ihr braucht uns“: Solidarität steht im Herzen vieler Proteste dieses Winters – manchmal offensichtlich, manchmal nicht Foto: AFP/Morris Mac Matzen

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Erst waren es die deutschen Bauern. Dann folgten die französischen. An diesem Montag haben sich die belgischen Landwirte dem Protest angeschlossen. Auch sie fordern bessere Arbeitsbedingungen, kämpfen für das wirtschaftliche Überleben ihrer Höfe. In Deutschland unterstützten Handwerker und Spediteure die Bauernproteste. Aus der Demonstration gegen einzelne Pläne der Regierung wurde vielerorts die Forderung nach einem Ende der Ampel-Koalition. In Frankreich streiken dieser Tage die Taxifahrer. In Deutschland waren es die Zugführer.

Doch es sind nicht nur Unternehmer, die in diesem Winter auf die Straße gehen, um ihrem Unmut über die jeweiligen Regierungen und deren Maßnahmen Luft zu machen. Was in diesen Wochen sichtbar wird, ist eine Mobilisierung unterschiedlicher Teile der Zivilgesellschaft – vor allem auch derjenigen, die sonst eher träge sind. Bauern und Zuggewerkschaftler sind leicht entflammbar. Der deutsche und luxemburgische Normalbürger ist es eher nicht.

In Deutschland sind auch an diesem Wochenende wieder Hunderttausende auf die Straße gegangen, um gegen die AfD und ihre Vertreibungsfantasien zu protestieren. Partei- und generationsübergreifend, in Groß- und Kleinstädten. Von Oldenburg an der Ostsee bis Immenstadt im Allgäu. Für ein Land, das nicht zum Protest neigt, ist das beachtlich.

Auch in Luxemburg-Stadt haben sich an diesem Montagnachmittag mehr als 150 Menschen vor dem Rathaus versammelt, um gegen das Bettelverbot der Gemeinde zu demonstrieren – organisiert von einem breiten Bündnis der Jugendorganisationen von LSAP, „déi gréng“ und „déi Lénk“. Menschen, die nicht nur für ihren Berufsstand auf die Straße gehen (was selbstverständlich legitim ist), sondern für etwas Größeres. Das ist das Besondere an diesem Winter der Proteste: Immer wieder geht er in den Anliegen der Protestierenden über den eigenen Gartenzaun, die eigene Lebenswelt hinaus. Kein Protest aus eigenen ökonomischen Interessen, nicht nur aus persönlicher Betroffenheit, sondern wegen etwas viel Abstrakterem: das reine demokratische Ideal der Solidarität. Solidarität mit den Schwächeren der Gesellschaft, mit Bettlern, mit den potenziellen Opfern einer AfD-Vertreibungspolitik. Auch die internationale Solidarität ist in diesen Wochen laut. In Luxemburg organisiert das „Comité pour une paix juste au Proche-Orient“ jeden Samstag Demos für einen Waffenstillstand in Gaza.

Solidarität bedeutet indes nicht Konsens. Im Gegenteil: Es geht um gelebten Dissens. Nicht alle Anliegen aller Protestierenden muss die Gesamtgesellschaft teilen. Wenn Aktivisten – wie an diesem Sonntag – die Mona Lisa im Louvre mit Suppe bespritzen, um für gesunde Ernährung zu protestieren, kann und darf man das misslungen oder unangebracht finden. Man darf die „Ampel muss weg“-Rufe überzogen finden und trotzdem solidarisch mit den Bauern sein. Protest ist streitbar. Gerade deshalb ist er auch gut geschützt. Als Kanal für den Widerspruch. 

Den nutzen dieser Tage viele. Manche, um etwas für sich selbst zu fordern, manche für andere, viele für alle. In Luxemburg, in Deutschland, in Frankreich. Wo Protestkultur wächst, wird die Demokratie stärker. Es scheint, als ob Menschen in vielen Ländern Europas gerade lange vernachlässigte demokratische Muskeln trainieren würden. Das alles ist besser als Apathie. Und so bleibt die Hoffnung, dass diese politische Mobilisierung aus dem Winter der Proteste in einen Frühling für Europa mündet. Und die Europawahl am 9. Juni im demokratischsten Sinn: in eine Protestwahl.

JJ
30. Januar 2024 - 9.15

Der Wasserkopf Brüssel fliegt uns um die Ohren.