29. Oktober 2025 - 6.41 Uhr
BalkanVom Mafia-Eldorado zum neuen EU-Musterknaben? Montenegro hofft auf baldigen EU-Beitritt
Eifrig ratternde Schredder künden im Hafen von Bar von Montenegros ersehnter Zeitenwende. Der Staub zermahlener Zigaretten wirbelt auf. Allein zwischen Ende Juni und Mitte September wurden in der einstigen Hochburg von Europas Zigarettenschmuggel unter Videoaufsicht 1,7 Millionen Kilogramm beschlagnahmten Rauchwerks pulverisiert.
Die Vernichtung von 1,3 Milliarden Zigaretten im Wert von 200 Millionen Euro wertet der hochgewachsene Premier Milojko Spajic stolz als „klares Signal“, dass das Land mit der „Schmuggelvergangenheit gebrochen“ habe: „Wir kehren auf den europäischen Weg zurück, von dem wir leider abgewichen waren.“
Über drei Jahrzehnte galt das nur 620.000 Einwohner zählende Land der Schwarzen Berge als Eldorado der Geldwäscher, Schmugglerbanden, Drogen- und Waffenhändler und als Schauplatz blutiger Abrechnungen konkurrierender Mafiaclans. Doch seit die über 30 Jahre regierende DPS des Ex-Dauerregenten Milo Djukanovic im Herbst 2020 in die Opposition verbannt wurde, müht sich der seit 2006 unabhängige Adriastaat um einen entschlosseneren Kampf gegen das organisierte Verbrechen – und immer häufiger klicken die Handschellen.

Der Staat mache „keine Geschäfte mit der Mafia“, verkündet der für den Kampf gegen die Korruption zuständige Vizepremier Momo Koprivica. Tatsächlich wandern nicht nur Auftragskiller und Drogenkuriere, sondern vermehrt auch korrupte Richter, Staatsanwälte, Polizeichefs, Bürgermeister und Ex-Minister hinter die hohen Gitter des Hochsicherheitstrakts im Gefängnis von Spus.
In den neuen, am 29. Oktober erwarteten Fortschrittsberichten der EU-Kommission über die Beitrittskandidaten kann zumindest Montenegro mit kräftigem diplomatischen Schulterklopfen rechnen. Das einstige Schmuddelkind im EU-Wartesaal wird von Brüssel gar als „Spitzenreiter“ der seit Jahren allerdings kräftig ins Stocken geratenen EU-Erweiterung gepriesen und gefeiert.
EU-Erweiterung tritt seit Jahren auf der Stelle
Seit dem Auftakt der Beitrittsverhandlungen 2012 hat Podgorica zwar erst sieben der 33 Kapitel abschließen können, aber den Marathon zuletzt spürbar beschleunigt. Es gebe beim Weg in die EU zwar „keine Abkürzung“, sagt in Podgorica der EU-Botschafter Johann Sattler. Aber in Sachen eines baldigen Beitritts sei er „vorsichtig optimistisch“: „Denn Montenegro liefert.“
Gelb blinken die Sterne auf dem Europabanner neben der tiefroten Landesflagge im Empfangssaal der Regierung in der Villa Gorica. „Willkommen in Montenegro, dem nächsten Mitglied der EU“, begrüßt Europa-Ministerin Maida Gorcevic ihre Gäste hoffnungsfroh: „Wir haben keinen Plan B. Unser Ziel ist es, 2028 als 28. Staat der EU beizutreten. Gut ist es, dass es dafür nicht nur im Inland, sondern auch in der EU nun ein Momentum gibt.“
Dabei war die EU-Erweiterung seit Kroatiens Beitritt 2013 jahrelang auf der Stelle getreten. In der Alt-EU überwog die „Erweiterungsmüdigkeit“: Die EU müsse sich erst reformieren, bevor sie neue Mitglieder aufnehmen könne, so das Credo. Im EU-Wartesaal machte sich Ermattung breit. Es sind die Folgen des Ukrainekriegs, die nun neue Dynamik in den Erweiterungsprozess bringen.
Der russische Angriff auf die Ukraine hat den EU-Partnern die Risiken eines Machtvakuums in ihrem Hinterhof drastisch aufgezeigt: Bewusst müht sich die EU darum, ihre eingeschlafene Erweiterung neu zu beleben. Um den Anwärtern eine glaubhafte Beitrittsperspektive zu geben, hat Brüssel dringend positive Erfolgsmeldungen nötig: Montenegro scheint dafür am besten geeignet.
Sanktionen gegen Russland mitgetragen
„Europa jetzt!“ nennt sich Montenegros größte Regierungspartei. Ebenso engagiert wie routiniert rasselt deren Mitbegründer Spajic die Argumente herunter, die laut Meinung des 38-jährigen Jungpremiers für einen raschen EU-Beitritt sprechen. Seit 2020 sei die Staatsschuld von 110 auf 60, das Haushaltsdefizit von zwölf auf drei Prozent gesackt, so der frühere Investmentbanker: „Wir erfüllen schon jetzt alle Maastrichtkriterien – und könnten außer der EU problemlos auch gleich der Eurozone beitreten.“
Noch vor zwei Jahren war Montenegro eine riesige Geldwaschmaschine. Nun haben wir eines der strengsten Anti-Geldwäschegesetze der Welt.
Mit der radikalen Absenkung der Steuersätze und Sozialabgaben habe sich das Steueraufkommen drastisch erhöht, das Sozialprodukt verdoppelt und sei der florierenden Schattenwirtschaft der Boden entzogen worden: „Noch vor zwei Jahren war Montenegro eine riesige Geldwaschmaschine. Nun haben wir eines der strengsten Anti-Geldwäschegesetze der Welt.“
Stets habe das NATO-Mitglied alle Sanktionen gegen Russland trotz immenser Einbußen für den heimischen Tourismus „zu 100 Prozent“ mitgetragen. Seit 2020 sei der EU-Anwärter in der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit vom 105. auf den 37. Rang geklettert: „Uns geht es nicht nur um die Vorteile des gemeinsamen Markts, sondern vor allem auch um die europäischen Werte.“
Seine energischen Bekenntnisse zu Europa werden in Brüssel zwar gerne gehört. Doch heimische Bürgerrechtler klagen, dass es um die Umsetzung der von der Regierung und der EU-Kommission gefeierten Reformfortschritte keineswegs so rosig bestellt sei wie von beiden Seiten dargestellt.

Proserbische Kräfte sorgen für Misstöne
Zur EU-Integration gebe es für ihr Land „keine Alternative“, versichert im „Europahaus“ Milena Gvozdenovic vom „Zentrum für den demokratischen Übergang“. Doch sie würde sich wünschen, „dass die EU mehr von uns fordert“. Denn oft habe sie den Eindruck, „dass Montenegro Reformen nur simuliert“ und die EU so tue, als würden „wir uns tatsächlich reformieren“: „Alle scheinen glücklich damit. Aber nachhaltig ist das keineswegs.“
Auch im Parlamentsaal prangt über dem Rednerpult Europas Sternenbanner. Obwohl die Opposition beteuert, voll hinter dem strategischen Ziel des EU-Beitritts zu stehen, zeigt sie sich von dem von der Regierung beschworenen Wirtschaftsmirakel wenig beeindruckt.
Der Premier sei ein „Abenteurer“, der die Lohnsprünge durch die Streichung der Arbeitnehmerbeiträge auf Kosten der bereits jetzt in Finanzschwierigkeiten geratenen staatlichen Renten- und Krankenkassen „mit mathematischen Spielereien“ erkauft habe, klagt der sozialdemokratische Parlamentarier Boris Mogusa: „Diese populistische und neoliberale Wirtschaftspolitik liefert vielleicht kurzfristig Erfolge. Aber ich fürchte, dass sie uns langfristig eine Menge ernsthafter Herausforderungen bescheren wird.“
Diese populistische und neoliberale Wirtschaftspolitik liefert vielleicht kurzfristig Erfolge. Aber ich fürchte, dass sie uns langfristig eine Menge ernsthafter Herausforderungen bescheren wird.
Ein serbischer Nationalist mimt den europäisch gesinnten Staatsmann. Er sei der „loyalste Bürger Montenegros“ und wünsche sich „nur gute Beziehungen zu den Nachbarn“, versichert auf seinem thronartigen Stuhl der weißhaarige Würdenträger, der im benachbarten Kroatien zur „unerwünschten Person“ erklärt worden ist: Nicht nur die Opposition, sondern auch unabhängige Analysten wittern in dem Parlamentsvorsitzenden Andrija Mandic den verlängerten Arm von Serbiens allgewaltigen Präsidenten Alexander Vucic.
Ob beim Gezänk um das sowohl von Montenegro als auch von Kroatien beanspruchte Segelschulschiff „Jadran“ oder bei historischen Streitigkeiten: Es sind auffällig oft die proserbischen Kräfte in Montenegros breiter, aber wenig homogener Koalition, die in letzter Zeit für vermehrte Misstöne in den Beziehungen zu Zagreb sorgen.
Zeitfenster könnte sich schnell wieder schließen
Die beiden proserbischen Parteien in der Regierung würden sich zwar offiziell für den EU-Beitritt aussprechen, aber hätten tatsächlich nur das Ziel, ihn zu verzögern, argwöhnt Montenegros frühere Chefunterhändlerin Gordana Djurovic: „Sie wollen nicht, dass wir vor Serbien der EU beitreten.“

Unter dem wolkenverhüllten Gipfel des Lovcen lässt ein in eine Decke gehüllter DJ auf der Aussichtsterrasse des „Cafe Monte“ sphärische Weisen erklingen. Lautlos verschwinden die ins Tal gleitenden Seilbahngondeln im dicken Nebel. Wohin Montenegros Reise gehen soll, ist zwar klar. Doch wie schnell das EU-Ziel erreicht werden kann, ist noch offen – und ungewiss.
Sein Land sei so klein, dass es bei Erfüllung der Aufnahmebedingungen „ohne große Mühe von der EU absorbiert werden kann“, ist Premier Spajic überzeugt. Doch auch auf dem internationalen Parkett können sich günstige Zeitfenster ebenso schnell wieder schließen, wie sie sich geöffnet haben.
Jahrzehntelang hatte beispielsweise Griechenland die EU-Ambitionen der mazedonischen Nachbarn wegen deren missliebigen Landesnamen blockiert. Zwei ähnlich getaktete Linksregierungen in Athen und Skopje begruben 2019 schließlich das Nachbarschaftskriegsbeil und verständigten sich auf die Umbenennung des EU-Anwärters: Aus Mazedonien wurde Nordmazedonien.
Zwar wurde der Balkanstaat 2020 in die NATO aufgenommen. Doch die verdiente EU-Belohnung für Skopjes Kompromissbereitschaft blieb aus. Erst drückte die deutsche CDU/CSU, dann Frankreich und die Niederlande auf die Bremse. Nun blockiert Bulgarien wegen historischer Streitigkeiten den tatsächlichen Beginn des 2022 nur auf dem Papier eröffneten Beitrittsslaloms.
Problemloser Beitritt keineswegs garantiert
Die Zeche der durch die EU-Partner verspielten Chance hat der Anwärter zu bezahlen: Obwohl Skopje bereits vor 20 Jahren den Kandidatenstatus erhielt, hat Nordmazedonien bis heute kein einziges Verhandlungskapitel eröffnen können.
Auch für Montenegro ist ein problemloser Beitritt keineswegs garantiert. Nicht nur das Erstarken von populistischen Kräften in den EU-Hauptstädten, sondern auch ein etwaiges, allerdings noch nicht absehbares Ende des Ukrainekriegs könnten Europas Prioritäten rasch wieder ändern. Dass Montenegros Momentum nicht ewig währt, weiß der Premier – und mahnt zur Eile. „Alles, was wir tun können, ist unsere Hausaufgaben zu machen, die Verhandlungen bis Ende 2026 abzuschließen und für den EU-Beitritt bereit zu sein“, so Spajic: „Danach beginnt ein politischer Prozess – und müssen wir alle EU-Partner davon überzeugen, dass sie von unserem Beitritt profitieren.“
Mit routiniertem Blick mustern die Besucher in der Markthalle von Podgorica die aufgestapelten Obst- und Gemüseberge. Chinesische Billigfeuerzeuge, Nylonsocken und Plastikstrohhüte preist ein redseliger Händler mit fester EU-Anbindung an. Sein Sohn und Enkel Elvis lebten in Bremerhaven, berichtet der Mann mit den zahlreichen Zahnlücken. „Wann auch immer, die EU wird kommen“, so seine felsenfeste Überzeugung: „Viel ändern wird sich dadurch nicht. Aber das Leben wird vermutlich etwas besser werden.“
(Transparenz-Hinweis: Der Text wurde auf einer von der EU-Kommission organisierten Pressereise nach Montenegro recherchiert.)
De Maart
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