Wenn sich im August in Locarno am Tessiner Lago Maggiore während elf heißen, sommerlichen Tage wieder Filmschaffende, Produzenten und Journalisten, sowie quasi 150.000 Festival-Liebhaber treffen, dann ist immer mit Highlights und erstaunlichen Events zu rechnen. Dazu zählt dieses Jahr die bemerkenswerte Präsenz Luxemburgs: Gleich fünf luxemburgische Filme und Koproduktionen haben es ins Programm von Locarno78 geschafft, das im Ganzen aus 221 Filmen besteht, davon 99 Weltpremieren. Ein Rekordauftritt für unser kleines, aber filmisch ambitioniertes Land.
Und dass das Großherzogtum und sein Film Fund auch bei berühmten internationalen Filmstars mittlerweile bekannt sind, zeigt die spontane Aussage von Willem Dafoe, der als Hauptdarsteller in „The Birthday Party“ (Miguel Ángel Jímenez, 2025) in Locarno letzte Woche über den roten Teppich ging. Auf unsere zugegeben etwas naive Frage, ob er schon einmal in Luxemburg gewesen sei, hat er geantwortet: „Yes, I have been, I shot a film there called ,Shadow of the vampire‘, in the late nineties.“ Er fügte mit verschmitztem Lächeln hinzu: „It was a film that had quite success and got some academy award nominations. So, a small film, shot in Luxembourg, for the countryside and also for certain economic reasons.“ Tatsächlich wurde Dafoe damals für seine Rolle als Max Schreck sowohl für einen Oscar als auch für einen Golden Globe in der Kategorie „Bester Nebendarsteller“ nominiert und gewann vier Auszeichnungen, darunter den Independent Spirit Award.
Vampire in Locarno
Vampirhaft wurde es dann am Wochenende wirklich, denn der rumänische Regisseur Radu Jude, umgeben von seinem Schauspieler- und Produzententeam, kam mit seinem Comedy-Drama „Dracula“, um Premiere zu feiern. Im Programmheft des Festivals fiel folgende Warnung auf: „This film features scenes that could shock the sensitivity of some viewers“, was sowohl Ablehnung als auch Neugierde provozieren kann. Es handelt sich dabei um eine rumänisch-österreichisch-luxemburgische Koproduktion (Samsa Film und Paul Thiltges Distribution), die im internationalen Wettbewerb um den Goldenen Leoparden antritt. Das 170 Minuten lange gewagte, aber hochinteressante Werk, das aus einem verrückten Mix von theatralisch Märchenhaftem, Groteskem, Pornografischem, sowie auch dokumentarisch Realistischem besteht, wurde am Freitag der Presse vorgestellt und am Samstag dem breiten Publikum. Der gutgelaunte und selbstironische Regisseur und Drehbuchautor Radu Jude stand der Presse und auch dem Publikum im „Spazio Cinema“ bei der Diskussionsrunde „Q&A“ Rede und Antwort.

Zur Entstehung des Films erklärte er, dass er erstaunt über das Interesse war, das allein schon der Name „Dracula“ heutzutage noch auslöste. Im kommunistischen Rumänien, in dem Radu Jude groß geworden sei, habe diese Figur als Tabu gegolten. Somit gäbe es auch fast keine alten rumänischen Filme über den Vampirfürsten. „So, as I decided to do the film and put inside all the weird and bad things that my friends and producers suggested me, I asked ChatGPT to write a porn Dracula story!“, erzählte er in heiterem Ton. Da die künstliche Intelligenz ihm dies aber verweigerte, beschloss er die Geschichten selbst zu schreiben und versuchte dabei, den Mythos Dracula zu dekonstruieren. „I like playfulness and digression and I feel inspired by the pre-Balzac literature, where storytelling was less structured and got plenty of freedom of composition, like in Boccaccio, Rabelais‘ Pantagruel, Diderot and Cervantes‘ Don Quijote“, fuhr er fort. Ebenso möge er das „non finito“, so wie es in der Bildkunst oft vorkommt, weil alles Unfertige viel mehr Raum für Interpretation zulasse.
Besonders zu bemerken ist das schauspielerische und gesangliche Talent von Adonis Tanta, dessen außergewöhnlicher Redefluss und dynamische Gestik den sprudelnden Rhythmus der Handlung unterstützt. Adonis erläuterte, dass er Theaterschauspieler sei und dass Radu ihn während einer Aufführung entdeckt habe. „Playing in this movie was hard work, but I had also so much fun singing, screaming, crying, dancing and speaking, of course.“
Weitere Highlights
Gespannt ist man nun auf die anderen vier Koproduktionen aus dem Großherzogtum: „The Deal“ von Jean-Stéphane Bron (Bidibul Productions) und „Yakushima’s Illusion“ (Viktoria Productions) konkurrieren um den Goldenen Leoparden, „Un simple accident“ von Jafar Panahi (Bidibul Productions) wird am 15. August auf der Riesenleinwand der Piazza Grande zu sehen sein und der Film „L‘Exil“ von Mehdi Hmili (Tarantula Luxembourg) in der Sektion „fuori concorso“ versucht, den „Pardo Verde“ zu ergattern, eine Auszeichnung des Concorso Cineasti del Presente. Dieser Preis (der Grüne Leopard) wurde 2022 erstmals vom Locarno Film Festival in Zusammenarbeit mit dem WWF Schweiz ins Leben gerufen. Er wurde geschaffen, um Filme auszuzeichnen, die sich mit ökologischen Themen auseinandersetzen und neue Perspektiven auf Umweltfragen bieten.

Was das Locarno Filmfestival aber noch so auszeichnet, ist die unwiderstehliche Kulisse der Piazza Grande bei den abendlichen Vorstellungen unter freiem Himmel und der speziellen Wohlfühl-Atmosphäre, die sie ausstrahlt. Bis zu 8.000 Zuschauer passen auf die Piazza und sie ist fast immer ausverkauft, vor allem bei prominenten Premieren oder Preisverleihungen. Das war am vergangenen Freitag der Fall, als Emma Thompson, kurz vor der Weltpremiere ihres neuen Thrillers „The Dead of Winter“, den Leopard Club Award bekam und am Samstag, als Jackie Chan den Pardo alla Carriera für sein beeindruckendes Lebenswerk erhielt.
Während des Tages werden die Filme in 13 Theater- und Kinosälen gezeigt und bieten die Möglichkeit, bei Gesprächsrunden mit Regisseuren und Casts dabei zu sein, Konzerte und Ausstellungen zu besuchen, Märkte und spontane Straßenperformances zu genießen. Dazwischen kommt Flanieren durch die Altstadt und Shoppen in den eleganten Geschäften nicht zu kurz, und wer Lust auf Bewegung und Sport hat, kann die Seepromenade entlangspazieren, ins kühle Nass springen und Bootsfahrten unternehmen oder einen Abstecher in die umliegenden Tessiner Berge und Täler machen, wie z. B. in die Valle Verzasca und Valle Maggia.
Die Organisatoren wissen durch ihre langjährige Erfahrung, worauf es ankommt, und kümmern sich mit strikter Professionalität um jedes Detail. Auch können sie auf Hunderte von freiwilligen Mitarbeitern zählen. Das Festival, das seit 2021 von Giona A. Nazzaro geleitet wird, bezieht auch klare Stellung in gesellschaftlich-politischen und moralischen Fragen. Der erste Abend am 6. August war nämlich weit mehr als ein festlicher Auftakt. Es war ein Plädoyer für Menschlichkeit und Frieden. Direktor Giona A. Nazzaro eröffnete das Festival mit den Worten: „Wir haben die Pflicht, unsere Augen immer offenzuhalten, vor allem dort, wo das Überleben ein alltäglicher Kampf ist, und müssen daher die inakzeptable Zerstörung Gazas und den Völkermord, den Palästina gerade erleidet, verurteilen!“ Laut Nazzaro und seinem Filmselektionskomitee müsse in einer Welt, die von Kriegen und Gewalt erschüttert wird, das Kino ein Raum bleiben, der sich offen gegen Barbarei stelle.

italiana“ Musik zum Stummfilm „The Winning of Barbara Worth“ Copyright: Locarno Film Festival / Ti-Press; Foto: MMarrtegani
Diese Haltung teilten auf der Bühne auch die iranische Schauspielerin Golshifteh Farahani und die armenische Filmemacherin Tamara Stepanyan, die beide mit bewegenden Botschaften den Wert von Kultur als Brücke in dunklen Zeiten betonten. Ebenso tat es Regisseur Kamal Aljafari mit seinem Film „With Hasan in Gaza“, der ein poetisches Denkmal gegen das Vergessen der reichen Kultur Palästinas setzen will. Am zweiten Abend hielten die Zuschauer der Piazza Grande, in totaler Stille, blutrot beschmierte Kärtchen hoch, auf denen mehrsprachig zu lesen war: „Stop GENOCIDE. Words and actions for PEACE. Against indifference.“
Weniger politisch, aber ebenso als Gänsehautmoment empfunden war der musikalische Auftakt des Festivals im Palexpo FEVI, bei dem das OSI (Orchester der italienischen Schweiz) einen Stummfilmklassiker traditionell begleitet. Dieses Jahr handelte es sich um „The Winning of Barbara Worth“ (Henry King, 1926). Die emotionale Wucht der Live-Musik ließ das Publikum in die dramatische Geschichte rund um Wasser, Macht und Heimatsuche in der Wüste Kaliforniens eintauchen. Fast 100 Jahre nach seiner Entstehung wirkt der Film aktueller denn je: Im Mittelpunkt stehen Fragen nach Ressourcenverteilung, Naturbeherrschung und Kosten des technischen Fortschrittes. Locarno78 begann mit einer Standing Ovation und dem eindrucksvollen Zeichen dafür, wie lebendig und relevant Filmgeschichte sein kann.
De Maart
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