Tageblatt-ReportageVolksaufstand in Minsk: Wie in Belarus gerade von unten eine Bürgergesellschaft geboren wird

Tageblatt-Reportage / Volksaufstand in Minsk: Wie in Belarus gerade von unten eine Bürgergesellschaft geboren wird
Bilder, Lieder, Orte: Auch die Revolution in Belarus braucht ihre Symbole Foto: AFP

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Die sonntäglichen Demonstrationen Hunderttausender sind nicht die einzige Form des Protestes in Belarus. Tageblatt-Korrespondent Paul Flückiger ist durch Minsker Hinterhöfe gestreift, hat geheimen Konzerten gelauscht und besuchte die Erinnerungsorte, die jede Revolution braucht. Eine Reportage über eine Gesellschaft, die sich gerade neu erfindet.

Auf den ersten Blick fällt gar nichts auf: Ein Kinderspielplatz, wie es sie Tausende in Minsk zwischen den gesichtslosen Hochhaussiedlungen gibt. Doch die kleinen Abfalleimer aus Gussbeton sind hier weiß-rot-weiß angepinselt. Ein kleines Zeichen des Widerstandes gegen das Regime im westlichen Minsker Stadtteil Kamennaja Gorka. Die fünf riesigen Wohnblocks wurden alle vor rund zehn Jahren gebaut. In der Nachbarschaft steht das große Bürohaus, in dem sich IT- und Outsourcing-Firmen eingemietet haben, das dem Quartier seinen informellen Namen gegeben hat.

Doch nun wird der Innenhof neu getauft: „Kwartal der Solidarität“, Solidaritätsquartier, heißt es in roten Lettern auf weißem Grund an einem Transformatorhäuschen. Jemand hat ein Graffito der beiden Minsker DJs aufgesprüht, die es kurz vor den Präsidentschaftswahlen gewagt hatten, auf einer Veranstaltung für den Amtsinhaber statt einer vorgesehenen Hymne den sowjetischen Rocksong „Peremen“ (Wende) von Wiktor Tsoi aufzulegen. Die beiden vom Staat angestellten DJs kamen wegen Hooliganismus ins Gefängnis. Und wurden so zu den ersten Helden des belarussischen Volksaufstands.

Diese Momente, in denen etwas Größeres beginnt

Die sowjetische Rocklegende Tsoi und die Farben Weiß-Rot-Weiß bringen nun im „Solidaritätsquartier“ die Generationen zusammen. Dazu kommen auch Luftballons in den Farben der oppositionellen, vom Autokraten Alexander Lukaschenko verbotenen Landesflagge, was den vielen Kindern gefällt. Die Leute haben Tee und Glühwein in Thermoskannen in den Innenhof gebracht, dazu Gebäck. „Es ist das erste Mal, dass wir uns zu so einem lockeren Plausch treffen, bisher kannte ich meine Nachbarn kaum“, sagt ein junger IT-Fachmann. Zu den Demonstrationen gehen weder er noch seine Ehefrau.

Noch beschränkt sich ihr Widerstand und Veränderungsdrang auf den Innenhof. Doch dies ist viel in Belarus, dessen 9,5 Millionen Einwohner von Angst zerfressen 26 Jahre lang den Sowjet-Nostalgiker Lukaschenko schweigend ertragen haben. Zu den Wahlen seien sie früher einfach nicht hingegangen, so wie zuvor ihre Eltern in der Sowjetunion, sagen die beiden. „Wenn meiner engsten Familie Böses geschieht, erst dann gehe auch ich auf die Straße“, sagt die Frau. „Dann hält mich nichts mehr zurück und meine Angst weg.“

Die neuesten Entwicklungen in Minsk zeigen, dass gerade dies nun beginnt. Das Regime war am Mittwoch nach der bis zuletzt geheim gehaltenen sechsten Amtseinsetzung Alexander Lukaschenkos als Staatspräsident in der Innenstadt massiv gegen die spontanen Proteste vorgegangen. Mindestens 200 Demonstranten wurden festgenommen.

Anfangs noch verschont, doch jetzt werden auch Frauen Opfer von Polizeigewalt
Anfangs noch verschont, doch jetzt werden auch Frauen Opfer von Polizeigewalt Foto: AFP/tut.by

Anfang September hatten Lukaschenkos Sicherheitskräfte zudem damit begonnen, die friedlichen Frauen-Demonstrationen teils brutal aufzulösen. Provoziert hat das Regime damit jedoch dezentralisierte Kleindemonstrationen zwischen den gesichtslosen Wohnblocks. Schnell wurden es so viele Mini-Proteste, dass Lukaschenkos Einsatzkräfte sie an vielen Orten der Zwei-Millionen-Stadt gewähren ließen. Solche lokalen Märsche sind unspektakulär für die Medien, doch sie integrieren wie ein Quartierfest. Und dies in einem Land, in dem bisher fast alles von oben herab organisiert wurde.

Aufstand könnte zehn Jahre dauern

Derweil konzentriert sich das Hauptinteresse auf die Teilnehmerzahl der sonntäglichen Großdemonstration. In Kiew wurde der Maidan 2013/4 erst dann zu einer Gefahr für die Machthaber, als Sonntag für Sonntag immer mehr Bürger hinfuhren, viele aus anderen Landesteilen. In Minsk nimmt die Teilnahme an den Protestmärschen trotz massiver Repressionen immerhin nicht ab.

Der nächste Schritt jedoch wären Risse in Lukaschenkos Machtbasis. In Belarus ist kein so einflussreicher ex-Minister wie Petro Poroschenko auszumachen, der plötzlich die Seiten wechselt. Der ehemalige Kulturminister und Botschafter Pawel Latuschko erscheint dagegen nicht als politisches Schwergewicht, zumal auch er nun wie die informelle Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja im Exil weilt. Dass auch Latuschko den Autokraten gewaltig störte, zeigen jedoch die Drohungen des Regimes gegen ihn. Im Internet tauchen dazu immer wieder Aufnahmen von Sicherheitskräften auf, die aus Protest ihre Uniformen verbrennen. Sogar Staatsanwälte haben gekündigt. Noch sind es indes Einzelfälle, die noch keinen Frühling machen.

Die Opposition wiederum mag vielen als führungslos erscheinen, doch ihre Forderungen sind klar: Lukaschenkos Abtritt, freie und faire Neuwahlen, ein Dialog der Machtstrukturen mit Tichanowskajas „Koordinationsrat“, dem auch Latuschko angehört, und die Freilassung aller politischer Gefangener, darunter prominent nun auch Maria Kolesnikowa. Dazu kommt, dass die Opposition ihre Machtdemonstrationen auf der Straße auch ohne Führung ganz gut hinkriegt, und dies landesweit.

Boris Pasternak, der Moskauer Herausgeber von Swetlana Alexiewitsch, zeigt in einer nächtlichen Fahrt quer durch Minsk die Schlüsselstellen der Protestmärsche in der Hauptstadt. Zwölf Stunden vor der Massenkundgebung gegen Lukaschenko herrscht dort noch langweiliger Normalzustand. Auf dem Siegesboulevard werden gerade die Fahrbahnen geputzt. Einzig beim neuen protzigen Präsidentenpalast verweist eine unscheinbare Stahlkonstruktion auf jene weit über mannshohen Gitter, die bald hier angebracht werden, um den Diktator vor jenem Volk zu schützen, das ihn angeblich immer noch liebt. Die Emotionen dieser Märsche lasse er sich trotz seines Alters und der Gefahren nicht nehmen, sagt der 75-jährige.

Putin und Lukaschenko spielen auf Zeit, doch die Belarussen interessiert dieses Angebot gar nicht, sie wollen die Wende hier und jetzt

Boris Pasternak, Moskauer Verleger von Swetlana Alexiewitsch

Pasternak indes gehört nicht zu den euphorisierten Optimisten. Der Aufstand könne wie in Polen 1980 bis 1989 durchaus zehn Jahre dauern, gibt er zu bedenken. Der Moskauer Verleger unterstreicht in einem weiteren Bogen im Gespräch auch die Signalwirkung dieser belarussischen Proteste für Russland selbst. Noch habe Putin die Mehrheit hinter sich, so wie bis vor kurzem auch Lukaschenko sie hatte, doch könne sich dies schnell ändern.

Lukaschenkos Diskussionsangebot über eine Verfassungsänderung dient deshalb auch Putin dazu, Zeit zu gewinnen, auch um einen nicht nur Russland-freundlichen, sondern loyalen Alternativkandidaten für 2022 aufzubauen. Dann sollen in Belarus vorgezogene Präsidentenwahlen stattfinden. Lukaschenko hat durchblicken lassen, dass auch er dann erneut antreten will. „Beide spielen auf Zeit, doch die Belarussen interessiert dieses Angebot gar nicht, sie wollen die Wende hier und jetzt“, fasst der in Minsk aufgewachsene Pasternak die Stimmung zusammen.

Das Volk hat genug von Lukaschenko, doch viele fürchten sich dennoch vor den Folgen einer Revolution. Ein Autofahrer, der gerade mit einer Buße von 135 belarussischen Rubel (umgerechnet rund 45 Euro) für sein Solidaritätshupen für eine Demonstration bestraft worden ist, erzählt von seinen Sorgen um den Gaspreis. „Wenn Putin das Gas wieder subventioniert, bin ich auch finanziell aus dem Schneider“, sagt der Alleinstehende, der mit rund 350 Euro pro Monat über die Runden kommen muss. Zum Demonstrieren habe er gar keine Zeit, sagt er Mann, fügt dann aber an, auch er habe vom 9. bis zum 12. August Verletzte transportiert.

U-Bahnstation wurde zu einem Memorial

Widerstand hat viele Gesichter, Straßenproteste sind nur eines davon. Dennoch erzählen Sonntagsdemonstranten in höchsten Tönen vom dortigen Gemeinschaftsgefühl. „Ich hätte nie gedacht, dass ich das noch einmal in meinem Lande erlebe, diese Freude, dieses Ende der Angst“, erzählt der Fotograf Andrei Liankiewitsch, dessen Projekte vom inhaftierten Präsidentschaftskandidaten Wiktor Babariko gefördert wurden. Mittendrin zu sein, sei ein tolles Gefühl, aber wieder heil herauszukommen, oft gefährlich, warnt eine Verkäuferin im patriotischen Modegeschäft „LSTR Adziennie“ unweit der Komarouski-Markthalle. Der linke Arm der jungen Frau ist bandagiert, auch sie wurde am vorletzten Sonntag von Lukaschenkos Sicherheitskräften geschlagen. Der Hit des Ladens sind rot-weiß-rote Flaggen geworden und das Gefängniswagen-T-Shirt in den offiziellen Landesfarben Grün-Rot mit der Aufschrift „Welcome“ ist gänzlich ausverkauft.

Die Proteste zu Lukaschenkos „geheimer“ Amtseinführung wurden brutal niedergeschlagen
Die Proteste zu Lukaschenkos „geheimer“ Amtseinführung wurden brutal niedergeschlagen Foto: AFP/tut.by

Wie alle Revolutionen braucht auch der belarussische Volksaufstand Erinnerungsorte und Helden. Zu einem zentralen Punkt in Minsk hat sich die U-Bahnhaltestelle „Puschkinskaja“ an einer Auffahrtsstraße nach Westen entwickelt. Hier wurden in der Wahlnacht Barrikaden gebaut. Radikalisierte Demonstranten warfen Molotow-Cocktails auf die Sicherheitskräfte. Bei den Auseinandersetzungen wurde Alexander Tarajkowski getötet. Das Innenministerium ließ tags darauf offiziell mitteilen, die Todesursache sei ein in den Händen des Demonstranten explodierter Molotow-Cocktail. Videoaufnahmen zeigten allerdings, dass der 34-Jährige unbewaffnet und am Weggehen war. Seinem Vater wurde später der Augenschein in der Leichenhalle verweigert. Erneut wurde damit klar, dass das Regime nicht nur die Wahlen massiv gefälscht hat.

Die rund fünf Kilometer vom Zentrum entfernte U-Bahnstation ist inzwischen zu einem Memorial der Proteste geworden. Selbst wer an ihnen nicht teilnimmt, kommt hier vorbei und legt Blumen für Tarajkowski nieder. Es kommen Familien mit Kindern, Rentner und viele Angestellte. Eine junge Frau, die gerade je zwei weiße und eine rote Nelke an der schlichten Stelle am Straßenrand hingelegt hat, berichtet, sie komme jeden Tag extra hier vorbei. „Ich fühle einen inneren Drang, es ist das Einzige, was ich tun kann“, erklärt sie.

Während die Archivarin einer Privatfirma Auskunft gibt, kommen weitere Hauptstädter dazu, es entspinnt sich eine rege Diskussion. Ein junger Mann stellt sich an die mehrspurige Auffahrtsstraße und zeigt das Siegeszeichen. Sofort erhebt sich ein Hupkonzert. Dann kommt die Polizei. Es handle sich um eine unerlaubte Versammlung von über drei Personen, wird die Gruppe informiert. Die Ordnungshüter sind nett, aber bestimmt. Die Gruppe geht auseinander. Doch kaum sind die beiden Polizisten weg, bildet sich eine neue Kleindemonstration vor den Blumengebinden.

Wer nicht demonstriert, legt Blumen nieder

Diese werden jeden Abend weggeräumt. Das Spektakel erinnert an die Kerzen für vom kommunistischen Regime ermordete Arbeiter in Polen vor 1989. „Solidarnosc“-Anhänger hatten sich damals in allen wichtigen Städten solche Gedenkorte auserkoren. Es herrschte ein dauerndes Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei. Doch das unerwünschte Gedenken schaffte Solidarität auch unter jenen, die zum aktiveren Widerstand nicht in der Lage waren. Nach zehn Jahren krachte das alte Machtsystem in Polen zusammen. In Belarus mag es schneller gehen, doch in Minsk rechnet kaum jemand mit jenen nur elf Wochen, die in Kiew 2013/14 bis zur Flucht des Staatspräsidenten nach Russland reichten.

„Jesus liebt dich“, steht rot auf weißem Grund auf einer Flagge, mit der sich eine Frau im Innenhof der Kirche des Heiligen Rochus umwickelt hat. Die katholische Kirchengemeinde von Minsk hat zum Friedensgebet geladen. Am Eingang stehen zwei Polizisten in Zivil. Die Messe wird vom Minsker Weihbischof Juri Kazabudski zelebriert und der Kirchenmann findet deutliche Worte, die viele der versammelten Katholiken lange vermisst haben. Das Regime verweigert die Wiedereinreise des Kirchenoberhauptes Tadeusz Kondrusiewicz, der zuvor die Gewalt der Sicherheitskräfte kritisiert und Lukaschenko zum Dialog mit der Opposition aufgerufen hatte. „Die Gläubigen sollen eingeschüchtert werden“, kommentiert Kazabudski im persönlichen Gespräch das Aufgebot der Sicherheitskräfte. Es ist keine Klage, sondern eine Feststellung. Viele Teilnehmer der anschließenden Prozession gegen Gewalt nehmen auch an den Demonstrationen teil. Das Gebet helfe gegen die Angst, die ihr stetiger Begleiter sei, berichtet eine IT-Fachfrau Anfang dreißig.

Geradezu ausgelassen ist derweil die Stimmung im Minsker „Quartier der Solidarität“ in Kamennaja Gorka. Das rührige Organisationskomitee hat den bekannten Minsker Rocksänger Pit Palau für ein akustisches Konzert vor dem Transformatorhäuschen gewonnen. Palau trägt mit krächzender Stimme die belarussischsprachige Revolutionshymne „Drei Schildkröten“ seiner alten Band N.R.M. vor. Der Bandname bedeutet so viel wie „Unabhängige Republik der Träume“. Die rund 300 versammelten Nachbarn singen mit, die tiefen Stimmen die Männer, die hohen die Frauen. Sie singen korrekt, obwohl sie wie fast alle Belarussen im Alltag nur Russisch sprechen. Kaum ist das Konzert gespielt und die letzten Selfies sind geschossen, raunt Palau dem Berichterstatter ins Ohr: „Und nun bloß weg hier! Ich fürchte Lukaschenkos Rache, ich will nicht Belarus’ Victor Jara werden.“ Der chilenische Barde starb 1973 beim Militärputsch von General Augusto Pinochet einen grausamen Tod.

J.Scholer
27. September 2020 - 9.26

Minsk, London,Berlin....Louisville. Europa , die Welt wird in den nächsten Jahren ein „Remake „ der Zeitgeschichte der 1918 - 1938 Jahre erleben. Aufstände , Demonstrationen , politische Machtkämpfe,....Kriege. Europa , die Welt und seine Gesellschaften stehen am Abgrund .Europa ,die Welt als Abbild von Sodom und Gomorrha.Dekadenz, Nimmersatttum, Unmoral,Machtbesessenheit, .... gepaart mit technologischem Wahnsinn pflastern den Weg in die Apokalypse.