ExklusivinterviewVictor Castanet: „Orpea versucht seit Jahren, in Luxemburg Fuß zu fassen“

Exklusivinterview / Victor Castanet: „Orpea versucht seit Jahren, in Luxemburg Fuß zu fassen“
Kommt Orpea nach Merl? Journalist und Buchautor Victor Castanet warnt Luxemburg vor dem Betreiber privater Altersheime.  Foto: Léonardo Kahn

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Victor Castanet macht seit vier Wochen kein Auge zu. Zum Interview erscheint er verspätet, er raucht noch schnell eine Zigarette. Nach dem Interview wird er zwei weitere rauchen. Seit der Veröffentlichung seines Enthüllungsbuchs „Les Fossoyeurs“, „Die Totengräber“, steht sein Telefon keine Minute still. Jeder will etwas von ihm: wütende Investoren, aufgebrachte Politiker, hartnäckige Journalisten. Mit einer derartigen Empörung über die Missstände in den privaten Altersheimen von Orpea hat der Journalist nicht gerechnet. Viele Interview-Anfragen sagt er daher ab. Auf die Anfrage aus Luxemburg freut sich Victor Castanet hingegen: „Über Luxemburg kann ich dir einiges sagen!“

Tageblatt: Ihr Buch „Les Fossoyeurs“ hat international für Aufregung gesorgt, auch in Luxemburg. Im März will Orpea ihr erstes Altersheim in Merl eröffnen.

Victor Castanet: Schlechtes Timing!

Die luxemburgische Familienministerin Corinne Cahen (DP) hat nach eigenen Angaben Ihr Buch gelesen. Ihre Enthüllungen nehme sie sich zu Herzen. Während der Lektüre ging ihr jedoch eine Frage nicht aus dem Kopf: Ist ein ähnliches Desaster in Luxemburg denkbar? Die Ministerin denkt eher nicht, denn in Ihrem Buch deuten Sie auf das Versagen der staatlichen Kontrollen hin. In Luxemburg werden diese hingegen von zwei unabhängigen Instanzen durchgeführt: dem Familienministerium und der Pflegeversicherung. Geben Sie unserer Ministerin recht, dass aufgrund besserer Kontrollen solche Dramen in Luxemburg vermeidbar wären?

Ich kenne mich mit dem luxemburgischen Kontrollsystem nicht besonders gut aus. Eins ist jedoch klar: Die Sparpolitik von Orpea betrifft nicht nur Franzosen, sondern auch Menschen aus anderen Ländern, vor allem aus Europa. In Belgien wurden zum Beispiel nach meinen Enthüllungen Kontrollen durchgeführt und man hat in rund zwanzig Altersheimen ähnliche Missstände aufdecken können. Ebenso in Italien und in Spanien. Selbst im Ausland zeugen Familien und Pflegekräfte von den gleichen Misshandlungen wie in Frankreich. Ihre Methoden zur Kostenreduktion, welche sowohl die Pflegequalität als auch die Arbeitsbedingungen der Angestellten beeinträchtigen, werden auch im Ausland angewendet.

Pro Patient wurden täglich nur drei Windeln eingeplant, ohne Ausnahme. Wer mehr brauchte, wurde tagsüber in seinen Exkrementen liegen gelassen.

Victor Castanet

Wie sieht diese Sparpolitik aus?

Brutal, selbst in den teuersten Altersheimen. In einer Einrichtung in der Pariser Banlieue, wo die monatliche Miete zwischen 7.000 und 12.000 Euro variiert, durfte das Essensbudget von fünf Euro am Tag nicht überschritten werden. Das entspricht ungefähr anderthalb Euro pro Gericht.  Und es wurde nicht nur am Speiseplan gespart! Pro Patient wurden täglich nur drei Windeln eingeplant, ohne Ausnahme. Selbst wenn eine Person erkrankte und ein, zwei Windeln mehr brauchte: nichts da! Der Sparplan musste auf jeden Fall eingehalten werden und die Pensionierten wurden tagsüber in ihren Exkrementen liegen gelassen.

In Ihrem Buch beschreiben Sie auch, wie Orpea ihre Angestellten erpresst. Eine Krankenpflegerin erzählt, wie sie dazu gezwungen wurde, einer Patientin vorzeitig Sterbehilfe zu leisten, sie also umzubringen, ohne dass ihre Familie dazu befragt wurde. Später wurde eine Person nach der anderen aus ihrer Abteilung entlassen, wohl damit die Affäre nicht auffliegt. Ist diese Form der Machtdemonstration bei Orpea gang und gäbe?

Ein Land, das kurz davor ist, eine Einrichtung dieser Gruppe bei sich aufzunehmen, sollte extrem vorsichtig sein – vor allem in Bezug auf deren Umgang mit ihren Arbeitnehmern. In Frankreich hat Orpea eine hauseigene Gewerkschaft namens Arc-en-Ciel eingeführt, die Vertreter aus anderen Gewerkschaften innerhalb des Pflegepersonals verdrängte. Die Angestellten können sich dadurch nicht effektiv gegen die Arbeitsbedingungen wehren. Die Verwaltung droht stets mit sofortiger Entlassung, ohne Motiv. Hinzu kommt, dass mir und meinen Zeugen während der Investigation mit juristischen Konsequenzen gedroht wurde. Kurz vor der Veröffentlichung baten mich daher viele darum, ihre Aussagen zu anonymisieren. Aus Angst!

Ihnen wurden von Orpea sogar 15 Millionen Euro angeboten, damit Sie Ihre Untersuchungen abbrechen.

Das stimmt, nach ungefähr anderthalb Jahren Recherche.

Warum haben Sie das Angebot abgelehnt? Mit Ihrem Buch werden Sie diese Summe doch niemals erreichen.

(lacht) Da haben Sie vollkommen recht! Doch ich konnte das den Zeugen nicht antun. Wie soll ich danach in den Spiegel blicken? Außerdem weiß ich nicht, ob sie mir das Geld danach auch wirklich gegeben hätten, denn es hätte auch eine Falle sein können. Dieser Gruppe ist alles zuzutrauen.

Sie prangern vor allem die Profitmaximierung von Orpea an. In Luxemburg meint Ministerin Corinne Cahen, man könne mit einer kompletten Transparenz der Ausgaben des Altersheims dagegen vorgehen. Sie haben drei Jahre zu Orpea recherchiert, würden Sie der luxemburgischen Regierung trotz all dieser Kontrollmethoden von der Niederlassung von Orpea abraten?

Ich bin Journalist, kein Politiker. Die rund 250 Zeugenaussagen sowie mehrere Dokumente legen mir jedoch nahe, dass Orpea in vielen europäischen Ländern die gleiche Strategie der Gewinnmaximierung hat, unabhängig von den nationalen Kontrollmechanismen. Die Gruppe begann im Jahr 2002 mit ihren drastischen Kostensenkungen – also in dem Jahr, an dem die Gruppe an die Börse ging. Seitdem müssen sie zwei sich entgegenstehende Erwartungen erfüllen: Einerseits müssen sie sich um eine prekäre Bevölkerungsgruppe kümmern, andererseits müssen sie ihren Aktionären eine stetig ansteigende Wachstumskurve gewährleisten. Dadurch steigt der finanzielle Druck in der Verwaltung, die mithilfe einer Senkung ihrer Ausgaben für Nahrungsmittel und Hygieneartikel ausgeglichen wird.

Die Niederlassung von Orpea in Luxemburg wurde von den dortigen Behörden erst vehement abgelehnt –  das scheint sich aus einem mir unerklärlichen Grund geändert zu haben

Victor Castanet

Ihre Recherche hat Sie nach Luxemburg geführt. Warum?

Ich weiß, dass Orpea schon seit mindestens zehn Jahren versucht, in Luxemburg Fuß zu fassen, weil dort die potenzielle Nachfrage nach Luxus-Altersheimen von bis zu 10.000 Euro Miete im Monat sehr hoch ist. An diesem Wunsch sind über die Jahre viele Berater von Orpea gescheitert. Zwei davon heißen Jean-François Rémy und Patrick Métais. Beide berichten mir, dass die Niederlassung von Orpea in Luxemburg von den dortigen Behörden erst vehement abgelehnt wurde. Doch das scheint sich ja jetzt aus einem mir unerklärlichen Grund geändert zu haben.

Letzte Frage: Gegen Ende Ihres Buchs erläutern Sie kurz, dass Orpea ihr Geld mithilfe von Schwestergruppen in Steueroasen lagert. Luxemburg kommt darin oft vor. Können Sie mir dazu mehr sagen?

Ein anderes Thema, das im Buch weniger behandelt wird, ist in der Tat die Finanzwelt. Ich weiß nicht, ob ich darauf antworten möchte. Da gibt es einige Informationen, die ich bewusst aus dem Text gestrichen habe. Aber ja: natürlich ist das ein Thema.

Und Sie wollen dazu nichts sagen?

Nicht ohne Anwalt.

Alles klar, ich danke Ihnen für Ihre Zeit.

Gern geschehen.

Léonardo Kahn
Léonardo Kahn Foto: privat

Ein Luxemburger in Paris

Der Luxemburger Léonardo Kahn arbeitet als freier Korrespondent in Paris. Sie hören ihn entweder im luxemburgischen Radio 100,7 oder auf Deutschlandfunk Kultur. Neben dem Tageblatt schreibt er auch für die Jüdische Allgemeine und Jetzt.de, das Jugendmagazin der Süddeutschen Zeitung. Auf Französisch schreibt er für die Tageszeitung Libération und der Wissenschaftssendung „La Terre au Carré“ im Radiosender France Inter. Seine Themenschwerpunkte sind Antisemitismus, Rechtsextremismus und Wissenschaft. Er recherchiert jedoch lieber zu Kultur, Musik und Essen.

Leila
26. Februar 2022 - 20.31

Sauber bleiben! Denn wenn Orpea wirklich hier sein Unwesen treiben darf, dann lässt das nur e i n e n Schluss zu... Und nicht mit Europa kommen - Ikea wurde nicht rein gelassen!

Robert Hottua
26. Februar 2022 - 7.33

Guten Tag Herr Castanet und Herr Kahn, die lux. Presse weist seit 2003 ergebnislos auf Mißstände im lux. Gesundheitswesen hin. 2006 hat die lux. Patientengewerkschaft ergebnislos eine parlamentarische Untersuchungskommission wegen wortwörtlich "Folterung und Tod von Psychiatriepatienten" in der lux. Presse gefordert. MfG Robert Hottua, Psychologe