Auf einmal wirkt die Bühne des Kapuzinertheaters sehr beengend. Hunderte Emojis flimmern über die schrägen Bühnenwände, die in peppiges Lila getaucht sind. Eine junge Frau lechzt nach einem Prinzessinnenkleidchen, streift es sich über und filmt sich für TikTok. In der Mitte der Bühne ist ein Kreis, so wähnt man sich grell im Mittelpunkt: Eine Frau (Jill Devresse als Sonya) schaukelt darin verspielt und träumt versonnen. „You can also get a sugar daddy“ liest man – und unter den Jugendlichen poppen Ideen hoch: Man könne Geld mit dem Körper und dem richtigen Outfit machen. In der Social-Media-Bubble ist der Körper das Kapital, das es zu vermarkten gilt. Dazu fällt der Musiker Edsun live ein: „All about the body“ – body, body, body“ und ein lautes Seufzen ist zu hören.
In Frank Wedekinds „Frühlingserwachen“ geht es um Jugendliche, die ihre Sexualität entdecken und daran kaputtgehen, es geht um den Druck einer Gesellschaft, die alles Körperliche verdammt, es geht um Unterdrückung von Jugendlichen durch das strenge Erziehungssystem und eine prüde Sexualmoral – gerade deshalb passt das Stück auch noch heute sehr gut ins katholische Luxemburg. Wedekinds 1891 veröffentlichtes Erstlingsdrama begründete einst seinen Ruhm als Bühnenautor. Erst nach Erscheinen einer abgemilderten Fassung wurde das Stück 1912 vom Berliner Oberverwaltungsgericht freigegeben. In episodischen Dialogen wird die Unsicherheit der Jugendlichen angesichts ihrer pubertären, für sie neuartigen Gefühle und Bedürfnisse zum Ausdruck gebracht.
Auf dem digitalen Markt der Begehrlichkeiten
Regisseurin Anne Simon, Schriftsteller Antoine Pohu und Singer-Songwriter Edsun haben in Gesprächen und Workshops mit Jugendlichen eine peppige mehrsprachige Neufassung geschaffen. In ihrem verschachtelten Text verschmelzen Alt- und Neuwerk miteinander – die eigens für das Stück entwickelten Songs dienen als Echo der Jugendlichen, die ihr Verlorensein in der Online-Welt widerspiegeln.
Eine Gruppe von Teenies steht cliquenhaft zusammen – mit Masken –, sie lachen und verlachen andere. „Sag mal, läuft zwischen dir und Kelly was?“, wird geraunt. Jules Werners gibt den autoritären – wenngleich progressiven – Lehrer, der die Jugendlichen verstehen will und animiert. Die Kids führen indes eine TikTok-Insta-Choreografie vor; ein Schüler liest aus einem Reclam-Heft Wedekinds „Frühlingserwachen“ und stürzt dabei fast von der Wippe in den Abgrund. So wird die vierte Wand auf der wackligen Bühne, auf der die Wände ohnehin kippen, von vorneherein durchbrochen, erscheint die Welt der Jugendlichen fragil-bodenlos.

„Es hat etwas Beschämendes, Mensch gewesen zu sein, ohne das Menschlichste kennengelernt zu haben“, so der Schüler Moritz, bevor er sich in Wedekinds Drama das Leben nimmt (2. Akt, 7. Szene). Dieses Schlüsselzitat fällt im Kapuzinertheater mehrfach, auch schon sehr früh. „Ist der Moritz schwul?“, fragt daraufhin ein Schüler. Jules Werner als Lehrer erklärt sehr pädagogisch: „Es geht um Jugendliche, die ihre Sexualität entdecken, und dazu gehört auch Homosexualität – gerade in Zeiten, in denen Rechtsextreme an der Macht sind und LGBTQ+-Rechte infrage gestellt werden.“ Bisweilen ist Pohus klug-gewitzte Textfassung etwas zu gesetzt, wohl im Bestreben, allen gerecht zu werden.
Die Bühne ist in schummriges Rot getaucht, wenn es über die Protagonistin heißt: „Sie ist eine Sex-Arbeiterin“. „Sie ist ja auch eine freie Frau und noch keine Bankerin“, wirft ein Junge ein und spiegelt damit Weitsicht wie Chuzpe. Doch auf den digitalen Plattformen existieren Zeit und Raum nicht. Die junge Sonja (Devresse) chattet aufgeregt mit einem älteren Mann, der ihr vormacht, er wäre an ihr als Person interessiert. Als Zuschauerin folgt man diesem Austausch beklemmt. Triumphierend wird sie gegenüber ihren Freundinnen prahlen: „Date is an euphemism. All my guys are more experienced.“ Die Chat-Partner gucken mit Masken durch die verschiebbaren Wände und bleiben so rätselhaft und undurchsichtig, ein kluger Zug der Regie. Brigitte Urhausen gibt im Petticoat-Kleid überzeugend die Mutter mehrerer Figuren, die – Achtung, Klischee (!) – sich mit Kochshows im Internet vermarktet.
Auf dem digitalen Markt der Begehrlichkeiten recken die Männer die Finger nach oben und flehen: „Meet me!“ Doch wie im glitzernden Konkurrenzkampf im Netz bestehen, wie landen? „Zu klein, zu groß, zu unordentlich, zu glatt“ – singt der Chor, bis der Lehrer ein Machtwort spricht: „You’re, what you’re!“ Das Bühnenbild (Agnes Hamvas), insbesondere die Wippe symbolisiert wunderbar die Gefühlsschwankungen beim Entdecken der Sexualität. Zugleich wird den Jugendlichen das liberale Mantra eingebläut: Alles ist möglich, werdet, was ihr wollt! Indes die jungen Frauen sich zu dick finden und von der optimalen Figur träumen.
Das Erwachen der Jugendlichen mit all ihren Sehnsüchten und Komplikationen vermag Anne Simon plausibel in eine Bühnensprache zu übersetzen, die von Jugendlichen und dem Sound von Edsun getragen wird. Wenn die Mutter (Brigitte Urhausen) ihrem Sohn etwa auf den Zahn fühlt, ob dieser schon Sex hatte, und ihr Junge vor ihr wegläuft, mit den Worten „Mamm, du bass wierklech penibel!“, transportiert sich die Scham auf die Zuschauerin. Während die Jungs nach „Nudes“ betteln und ihre Männlichkeit hinterfragen, übertönt ein pochendes Herz das Geschehen.
Die Vergewaltigung wird schließlich im Klassensaal pädagogisch diskutiert. Wendla meint, sie ist krank, ihre Mutter redet ihr ein, sie leide an Bleichsucht, aber sie ist schwanger: #Slutdaughter; #Slaughtmom! „Was hast du nur getan?“, empört sich aufgebracht die Mutter. „Das, was du mir vorgelebt hast“, erwidert ihre Tochter: „#Foodpornrevisité“ oder in Luxemburg das größte Problem: „Was sollen nur die Nachbarn denken?“ Die Gefahren des Cybermobbings kulminieren am Ende in einem Mob, der sich über ein Video mokiert.
Auch wenn dieser Abend ein wenig anstrengend und unübersichtlich (auch durch die vier Sprachen herausfordernd) ist und vor allem ältere Semester Schwierigkeiten haben dürften, die Handlungsfäden nicht zu verlieren, so ist die Inszenierung doch ausgefallen und überzeugt am Ende auch durch Selbstironie. Wie weit der Erkenntniswert reicht, um sich aus dem Social-Media-Gewühl zu befreien, ist eine andere Frage.
Spieltermine
Premiere von „Spring Awakenings“ war am 25. April im Kapuzinertheater. Weitere Spieltermine: am Mittwoch, dem 7. Mai, Donnerstag, dem 8. Mai, und Samstag, dem 10. Mai, um 20 Uhr sowie am 11. Mai um 17 Uhr im Kapuzinertheater.
De Maart
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