In der Nacht zum Dienstag wurde die strategisch wichtige 20.000-Einwohner-Stadt Kreminna im Nordwesten der Oblast Luhansk erobert. Die Ukrainer stehen damit an der Einfahrt der im Juni nach wochenlanger Schlacht verlorenen Großstädte Sewerodonezk und Lyssytschansk.
Damit haben die Ukrainer nach dem überraschend schnellen Fall von Isjum am Wochenende drei wichtige Versorgungsrouten der russischen Armee in den Nord-Donbass unter ihre Kontrolle gebracht. Dabei wurden russische Verbände bei Isjum und Lyman einfach umgangen. Diese sind inzwischen eingekesselt.
Befreit wurde auch das symbolisch-geistige Zentrum des Donbass, das Städtchen Swiatohirsk mit ihrem berühmten orthodoxen Höhlenkloster. Dieses liegt im Norden der Oblast Donezk und war im Mai und Juni ein Hotspot heftiger Kämpfe zwischen Ukrainern und Russen.
Wie stark sich der blitzartige Vorstoß der Ukrainer auf das in monatelangen schweren Kämpfen von Russland eroberte Gebiet auf die Moral der russischen Truppen ausgewirkt hat, zeigt das vielerorts in gefechtsbereitem Zustand zurückgelassene schwere Kriegsgerät wie Raketenwerfer und Panzer. Dies ist den Ukrainern meist mitsamt Munition zugefallen und kann nun für den weiteren Vorstoß nach Osten verwendet werden.
Kadyrow will 10.000 Kämpfer entsenden
Teils sind die russischen Einheiten offenbar nach Russland selbst geflüchtet, anstatt sich, wie vom Generalstab in Moskau behauptet, im Donbass neu zu gruppieren. Auch Tausende von Zivilisten stehen an den Grenzübergängen zu Russland Schlange, darunter bei Kosatscha Lopan 35 Kilometer im Norden der Millionenstadt Charkiw. Der Grenzübergang war von den Ukrainern erst am Wochenende zurückerobert worden.
Laut dem Washingtoner Thinktank „Institut for the Study of War“ hat die russische Armee die vertriebenen Einheiten bisher nicht durch neue ersetzt. Der Blitzkrieg hat offensichtlich die ohnehin schon geringe Moral der russischen Truppen weiter angegriffen. Stattdessen hat der Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow am Montagabend in einem Propaganda-Video versprochen, 10.000 Kämpfer in den Donbass zu entsenden, um dort die russische Armee zu unterstützen.
Die hochmotivierten Ukrainer griffen im Nordosten offenbar mit verhältnismäßig kleinen Einheiten besonders schwache Stellen an der Frontlinie an. Dabei nutzten sie westliche Geheimdienstinformationen und Satellitenaufnahmen, aber auch eigene IT-Auswertungen von Filmaufnahmen Hunderter entlang der Frontlinie eingesetzter Drohnen. Angegriffen wurden vor allem Frontabschnitte, die von schlecht ausgebildeten Miliz-Einheiten der selbst ausgerufenen „Volksrepublik Luhansk“ gehalten wurden. Viele auch strategisch wichtige Stellen waren kurz zuvor vom russischen Kommando ausgedünnt und in den Raum Cherson verlegt worden. Noch ist unklar, welchen Beitrag westliche Waffenlieferungen leisteten. Klar ist indes, dass durch moderne Waffentechnik die Zielgenauigkeit wesentlich erhöht werden konnte. Einige polnische Experten streichen in ihren Analysen den Einsatz von von Warschau gelieferten T-72 Panzer sowjetischer Bauart heraus.
Offenbar Tausende russische Soldaten eingeschlossen
Offenbar wurde selbst das Verteidigungsministerium in Kiew von dem raschen Vorstoß der ukrainischen Armee und Nationalgarde im Nordosten überrascht. Laut Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maliar wurden innerhalb von sieben Tagen über 300 Ortschaften mit insgesamt 150.000 Einwohnern alleine in der Oblast Charkiw von den russischen Besatzern befreit. Dabei handle es sich um ein 3.800 Quadratkilometer großes Gebiet, sagte sie am Dienstagabend. „Wir machen weiter, bis die ganze Oblast befreit ist“, sagte Maliar.
Erfolge vermeldete die ukrainische Armee auch im Süden des Landes. Dort haben die Milizen der selbst ausgerufenen „Volksrepublik Donezk“ (DNR) offenbar das strategisch wichtige Dorf Kiseliwka aufgegeben. Durch diese nur 15 Kilometer nordwestlich von Cherson gelegene Ortschaft führt eine wichtige Eisenbahnlinie und Fernstraße auf die seit 2014 russisch besetzte Halbinsel Krim. Laut Gerüchten sollen auf der westlichen Seite des Flusses Dnipro Tausende von russischen und DNR-Soldaten eingeschlossen sein. Laut Natascha Hummieniuk, Sprecherin des ukrainischen „Kommandos Süd“, sollen bereits Verhandlungen mit den Russen darüber laufen, wie sich diese gemäß internationalem Recht ergeben könnten. Die Russen hatten die Großstadt Cherson Anfang März erobert und in dem Schwarzerdegebiet westlich davon einen zahlenmäßig starken Brückenkopf für die Eroberung Odessas errichtet. Dieser gerät im Zuge der ukrainischen Gegenoffensive im Süden immer mehr unter Druck, nachdem die Ukrainer dank amerikanischer Himars-Raketenwerfer die Fluchtwege über den Dnipro weitgehend unbrauchbar gemacht haben. Der Vorstoß der Ukrainer im Süden ist allerdings viel langsamer als jener im Norden.
EU-Außenbeauftragter: Sanktionen schaden russischem Militär
Die Sanktionen der Europäischen Union gegen Moskau wegen des Ukraine-Kriegs schaden nach Worten des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell dem russischen Militär deutlich. Russland falle die Instandhaltung seiner Waffen und seiner militärischen Ausrüstung zunehmend schwer, sagte Borrell zu Abgeordneten in Straßburg am Dienstag. Grund dafür sei, dass etwa die Hälfte der russischen Technologie von europäischen Importen abhänge. Diese Einfuhren seien jedoch aufgrund der Sanktionen zum Erliegen gekommen. Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar haben die USA, die EU, Großbritannien und weitere Staaten gegen Russland scharfe Strafmaßnahmen verhängt.
Die EU-Sanktionen hätten bereits „sehr ernsthafte“ Konsequenzen für Moskau, ergänzte Borrell. Etwa zwei Drittel aller russischen Zivilflugzeuge könnten nicht länger fliegen, weil ihre Bauteile von westlichen Ländern stammten. Die Strafmaßnahmen verhinderten auch die Einfuhr von Ersatzteilen. Außerdem sei Russland nicht mehr in der Lage „die großen militärischen Verluste, die es erlitten habe, zu überwinden“. (Reuters)
De Maart
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