Romantischer könnte es in diesen Kriegstagen in der Ukraine kaum sein. Nur 500 Meter zu Fuß müssen künftig die russischen Beamten zur Strandpromenade von Skadowsk gehen. Dort locken die Cafés und das „I like Skladowvsk“-Herzchen, auch ein Riesenrad gibt es. Allerdings erinnert in dem unter Einheimischen beliebten ukrainischen Badeort wenig an Russlands Größe und schon gar nichts an eine Gebietshauptstadt. Knapp 18.000 Einwohner hatte das Städtchen vor dem Krieg. Seit Dienstag ist es der offizielle Sitz der russischen Zivilverwaltung der Oblast Cherson. Denn Skadowsk hat einen großen Vorteil: Es liegt weit weg von der von Norden und Westen anrückenden ukrainischen Armee.
Im Unterschied zum bisherigen Verwaltungszentrum Cherson haben in den letzten Tagen keine Explosionen die Ruhe der Besatzungsbeamten gestört. Erst am Mittwoch hat die ukrainische Armee eine neue Pontonbrücke parallel zur strategisch wichtigen Antoniwka-Brücke über den Dnipro mit Präzisionswaffen unbrauchbar geschossen. Kiew will so die russischen Truppen vom Nachschub, aber auch von Rückzugswegen abschneiden. Die Ukrainer stehen zehn Kilometer von der Stadt entfernt, die auf der linken und damit westlichen Seite des Dnipro liegt.
Seit zwei Monaten stehen wir hier, ich wünschte mir, es würde schneller gehen
Am Donnerstag haben sich die Russen laut Kiew erneut aus drei Dörfern rund um Cherson zurückgezogen. Vermutlich Tausende russischer Soldaten sind von der Umzingelung bedroht, denn auch von Süden her rücken die Ukrainer an. Doch der Vormarsch der Ukrainer ist langsam, an der Front erinnert vieles eher an einen Stellungskrieg. „Seit zwei Monaten stehen wir hier, ich wünschte mir, es würde schneller gehen“, sagt ein ukrainischer Soldat in einem Frontvideo.
Laut westlichen Geheimdiensten haben die Ukrainer ein Zeitfenster von vier bis sechs Wochen, um Cherson zurückzuerobern. Doch bereits am Donnerstag kursierten in den sozialen Netzwerken Fotos von Verwaltungsgebäuden in Cherson ohne russische Flaggen. Laut dem ukrainischen Kommando „Süd“ könnte es sich dabei um eine russische Provokation mit dem Ziel handeln, die ukrainischen Truppen in eine Falle in der Stadt zu locken.
Rekruten rücken nach
Die Russen haben zwar ihre Verwaltung aus der Ende September annektierten ukrainischen Oblast abgezogen und in den letzten zwei Wochen Zehntausende der einstigen 300.000 Einwohner der Stadt auf die nahe Halbinsel Krim oder nach Russland selbst evakuiert.
Dennoch bleiben bis zu 100.000 vermutlich eher pro-ukrainisch eingestellte Zivilisten im einstigen Verwaltungszentrum zurück. Kiew will offenbar verhindern, dass die Stadt in Schutt und Asche geschossen wird. Eine Möglichkeit wäre eine Kapitulation russischer Truppen. Doch Moskau wird diese Schmach kaum zulassen. Laut ukrainischen Geheimdienstberichten werden gegenwärtig erfahrene russische Truppen vom westlichen aufs östliche Dnipro-Ufer zurückgezogen und durch gerade eingezogene Rekruten ersetzt. Gleichzeitig werden die verbliebenen Einwohner Chersons gezwungen, Verteidigungsanlagen auszuheben.
G20: Selenskyj kommt nicht, wenn Putin da ist
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schließt aus, dass er und der russische Präsident Wladimir Putin gemeinsam an dem G20-Gipfel in Indonesien teilnehmen werden. „Mein persönlicher Standpunkt und der Standpunkt der Ukraine ist, dass die Ukraine nicht teilnehmen wird, sollte der Chef der Russischen Föderation teilnehmen“, sagt Selenskyj. Das Treffen der führenden Industrienationen und Schwellenländer findet am 14. und 15. November auf der indonesischen Insel Bali statt. (Reuters)
Befestigt wird seit ein paar Tagen auch das rechte Dnipro-Ufer. Russische Truppen haben mehrere Privathäuser in Nowa Kachowka, mit 46.000 Einwohner die zweitgrößte Stadt in der Oblast Cherson, beschlagnahmt. In Nowa Kachowka beginnt nicht nur der strategisch wichtige Süßwasserkanal auf die bereits 2014 annektierte ukrainische Halbinsel Krim; es steht auch ein großes Wasserkraftwerk dort. Dessen Staudamm haben die Russen offenbar vermint. Ein Dammbruch infolge von Kampfhandlungen oder einer russischen Provokation könnte weite Teile von Cherson überschwemmen und den ukrainischen Vormarsch um rund zwei Wochen verlangsamen.
Der US-Experte für russisches Militär, Michael Kofman, sagte nach seiner Rückkehr von der Cherson-Front, die russischen Absichten seien unklar. Er bezweifelte, dass Russland das Westufer des Flusses ohne größeren Druck aufgeben würde, aber er könne sich auch irren.
Was die Russen vorhaben, weiß demnach niemand. Anfang des Monats wurde von den Besatzern bekannt gegeben, dass ein 15 Kilometer breiter Uferstreifen im Süden des Dnipro ab Samstag evakuiert werden soll. Darunter auch Nowa Kachowka und Nowa Malatschka, ein Landwirtschaftszentrum am Krim-Kanal. Rund 100.000 Zivilisten dürften von der neuen Evakuierungswelle betroffen sein. Im Gegensatz zu den russischen Beamten werden diese Zivilisten kaum in den malerischen Badeort Skadowsk gefahren.
IAEA: Keine Hinweise auf „schmutzige Bombe“
Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA teilte mit, bislang keine Hinweise auf Arbeiten an einer „schmutzigen Bombe“ in der Ukraine gefunden zu haben. Bei der Untersuchung der drei von Russland genannten Standorte seien keine entsprechenden Indizien entdeckt worden. Die Regierung in Kiew hatte um die Untersuchung gebeten, um Vorwürfe Russlands zu entkräften, der Einsatz einer konventionellen, aber mit radioaktivem Material gefüllten Bombe werde geplant. (Reuters)
De Maart
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