„Die alten Schablonen – Lipizzaner, Mozartkugeln oder Neutralität – greifen in der komplexen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts nicht mehr“, sagt der österreichische Bundeskanzler und bereitet die Bürger auf eine sicherheitspolitische Wende vor: „Wir sollten alle Optionen – auch die Beitrittsoption (zur NATO, Anm. d. Red.) – sorgfältig prüfen und nichts von vornherein ausschließen.“ So sprach im Herbst 2001 der damalige Regierungschef Wolfgang Schüssel (ÖVP). Auch der Koalitionspartner FPÖ war offen für eine Abkehr von der Neutralität. In der damals von ÖVP und FPÖ gegen die Stimmen der Opposition durchgesetzten Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin hieß es wörtlich: „Der sicherheits- und verteidigungspolitische Nutzen einer NATO-Mitgliedschaft wird von Österreich (…) laufend beurteilt und die Beitrittsoption im Auge gehalten.“
20 Jahre später ist davon keine Rede mehr. Während die bündnisfreien EU-Länder Finnland und Schweden gerade Kurs Richtung NATO nehmen, beendete in Wien ÖVP-Kanzler Karl Nehammer die Diskussion über Neutralität und NATO, noch ehe sie überhaupt richtig begonnen hatte: „Österreich war neutral, Österreich ist neutral, Österreich wird auch neutral bleiben.“ Mit Blick auf die schwerste Krise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg meinte der ÖVP-Chef, es brauche „nicht Diskussionen, die keine Grundlage finden in der Realität“.
Österreich war neutral, Österreich ist neutral, Österreich wird auch neutral bleiben
Dass Finnland und Schweden einen anderen Weg eingeschlagen haben, wertet Nehammer als „Paradigmenwechsel“. Diese Folge des Ukraine-Krieges sei eine weitere Fehleinschätzung von Kremlchef Wladimir Putin. In Österreich hat der russische Präsident keinen derartigen Paradigmenwechsel zu befürchten. Die Neutralität sei „immerwährend“, betonte der Kanzler am Mittwoch einmal mehr.
Alles andere wäre auch politisches Harakiri. Und das weniger, weil die klare Verurteilung des Überfalls auf die Ukraine das russische Außenamt schon Anfang März zu scharfer Kritik am „scheinbar neutralen Österreich“ veranlasst hatte. Vor allem innenpolitisch käme lautes Nachdenken über einen NATO-Beitritt teuer zu stehen. Denn die Österreicher sind mehr denn je Fans der Neutralität. Mitte März sprachen sich in einer vom Verteidigungsministerium in Auftrag gegebenen Umfrage 83 Prozent für deren Beibehaltung, nur 16 Prozent dagegen aus. Während in Finnland Umfragen seit Beginn des Ukraine-Krieges ein Hochschnellen der Zustimmung zu einem NATO-Beitritt zeigen, sind die Österreicher jetzt mehr denn je von ihrer Neutralität überzeugt.
„Pathologische Züge“
Das war wohl auch einer der Gründe für Nehammers überraschenden Besuch bei Putin am Montag. Nachdem er am Samstag zum ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nach Kiew gereist war, hatte es auch Kritik gegeben. Vor allem die FPÖ, die vor 20 Jahren für die NATO-Option plädiert hatte, tut sich nun als eifrigster Hüter des Status quo hervor. Parteichef Herbert Kickl warf Nehammer „das überfallsartige Ramponieren der Neutralität“ vor. Er betrachtet sogar die Beteiligung Österreichs an den EU-Sanktionen als Neutralitätsverletzung.
Ausgeblendet wird dabei, dass dem neutralen Status immer das Manko der Unehrlichkeit anhaftete, weil Österreich sein Bundesheer ausgehungert und immer insgeheim auf den NATO-Schutzschirm vertraut hat. Christian Rainer, Chefredakteur des Nachrichtenmagazins profil, wies diese Woche in seinem Leitartikel darauf hin: „Die Neutralität war eine Notlüge. Dann wurde sie ein Feigheitsbekenntnis. Im Ukraine-Krieg hat sie pathologische Züge.“ Nichtsdestotrotz: Die meisten Österreicher sind in dieser Hinsicht gern pathologisch.
De Maart
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