Immer wieder versuchen Gruppen von Geflüchteten, unterstützt von belarussischen Grenzschutz-Soldaten, den 5,5 Meter hohen Metallzaun zu Polen zu überqueren oder durch die Fluten des Grenzflusses Bug zu schwimmen. In der Nacht vom Sonntag auf Montag waren es 53 Personen, die meisten aus Syrien und Iran, wie der polnische Grenzschutz auf seiner Homepage berichtet. 50 Personen pro Nacht sind eher die obere Grenze im September. Im August hingegen waren es nicht selten 100 Personen pro Nacht.
Noch einen neuen Trend zeigen die Statistiken des Grenzschutzes: Seit September werden immer mehr illegale Migranten an der Grenze zwischen Polen und der russischen Oblast Kaliningrad aufgegriffen. Diese Grenze wird durch mannshohe Stacheldrahtrollen verstärkt, jedoch keinen Zaun.
Solche Grenzbefestigungen zeigt der kontroverse Spielfilm „Zielona Granica – Green Border“ („Grüne Grenze“) von Agnieszka Holland, der gerade in Polen in über 250 Kinos angelaufen ist – und die Regierung zur Weißglut treibt. Die national-populistische PiS-Regierung befürchtet gut zwei Wochen vor wichtigen Parlamentswahlen weltweite Negativschlagzeilen wegen der dort gezeigten brutalen Pushback-Aktionen, die die bisher gemäß den meisten Umfragen intakten Chancen der Kaczynski-Regierung auf eine dritte Amtszeit gefährden könnten.
Zwischen Warschau und Minsk herrscht schon seit mindestens drei Jahren nach der brutalen Niederschlagung des belarussischen Volksaufstands Eiszeit. Auch die Grenzschützer arbeiten schon lange nicht mehr zusammen, sondern schaden sich gegenseitig.
Pushback-Aktionen durch Grenzschützer
Erfahrungsgemäß wollen die meisten Geflüchteten nicht in Polen bleiben, sondern nach Deutschland oder Skandinavien. Polen ist für sie nur Transit. Die europaweit eher wenig benutzte Fluchtroute über den Flughafen in der belarussischen Hauptstadt Minsk gilt dabei als sicherer als die Flucht übers Mittelmeer. Humanitäre Organisationen schätzen, dass seit Beginn der sogenannten „polnisch-belarussischen Flüchtlingskrise“ vor zwei Jahren rund 250 Personen beim Fluchtversuch von Belarus nach Polen gestorben sind. Es handelt sich dabei meist um entkräftete Flüchtlinge aus Arabien oder Afrika, die sich vor allem in den Wintermonaten in den Wäldern und Sümpfen beiderseits der Grenze verirren und erfrieren.
Die meisten von ihnen versuchen diese beiderseits gut bewachte Grenze in mehreren Anläufen zu überqueren. Nach Pushback-Aktionen der polnischen Grenzschützer zurück nach Belarus geben nur die wenigsten auf. Dabei müssen sie oft die belarussischen Grenzschützer bestechen, erhalten dafür aber nicht selten Hilfeleistungen beim Überqueren des Zauns.
Hatte es 2022 laut Angaben des polnischen Grenzschutzes 15.700 verhinderte illegale Grenzüberschreitungsversuche aus Belarus gegeben, so haben diese seit Mai massiv zugenommen. Demnach versuchten alleine in den ersten sechs Monaten dieses Jahres knapp 14.000 Personen über die sogenannte „Belarus-Route“ nach Polen zu gelangen und wurden dabei vom Grenzschutz abgefangen.
Rache für Hilfe für Opposition in Belarus
Diese gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 umstrittenen Pushbacks haben vor allem politische Gründe. Warschau will damit den Versuch der diktatorischen Regime Minsk und Moskau unterbinden, diese neue Flüchtlingsroute als Mittel hybrider Kriegsführung gegen Polen und den gesamten Westen zu missbrauchen. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine vor anderthalb Jahren hat sich die Situation an Polens Ostgrenze noch einmal zugespitzt. Die „Belarus-Route“ befindet sich heute nicht nur an der EU-Außengrenze, sondern an der Grenze zwischen NATO und dem Verteidigungsbündnis zwischen Russland und Belarus.
Dies hat folgende Vorgeschichte: Noch vor drei Jahren, während der großen Proteste gegen die Wahlfälschung des belarussischen Autokraten Alexander Lukaschenko ab dem 9. August 2020, gab es keine „Belarus-Flüchtlingsroute“. Nach der brutalen Niederschlagung des Volksaufstands gegen Lukaschenkos Diktatur mit Moskauer Hilfe haben Polen und Litauen der demokratischen Opposition rund um die mutmaßliche Wahlsiegerin Swetlana Tichanowskaja politisches Asyl gewährt. Als Rache darauf drohte Lukaschenko, seine Grenzen nicht mehr zu bewachen und Migranten den freien Durchzug zu gewähren.
Minsk stellte daraufhin massenweise Visen vor allem für irakische, syrische und afghanische Bürger aus und half ihnen, an die Grenzen von Litauen, Lettland und Polen zu gelangen. Im August 2021 kam zuerst das kleine Litauen unter massiven Druck aufgrund der Geflüchtetenströme, im Oktober 2021 hatte die Welle Polen erreicht. Bei Kuznica Bialostocka kam es zu Ausschreitungen von rund 4.000 Asylsuchenden gegen polnische Grenzsoldaten. Dabei wurden sieben Beamte verletzt. Polen beschloss daraufhin den Bau eines Grenzzauns zu Belarus. Bis Sommer 2022 wurden 186 Kilometer massiver Eisengitterzaun gebaut, zumeist mitten durch die Wanderrouten der letzten Bisons Europas. Der Protest von Ökologen bewirkte nichts. Der Zaun wurde in der Folge elektrisch gesichert und mit Stacheldraht verstärkt.
Fußmarsch durch Wälder und Sümpfe
Verschärft hat sich die Situation nun, nachdem Lukaschenko die „Wagner“-Söldner des langjährigen Putin-Freundes Jewgeni Prigoschin nach Belarus eingeladen hat. Trotz Prigoschins Tod bei einem Flugzeugabsturz unweit von Moskau könnten sich noch bis zu 1.000 russischen „Wagner“-Söldner in Belarus aufhalten. Warschau befürchtet, dass ein Teil dieser gefürchteten, kampferprobten Söldner an die Grenze verlegt werden könnte. „Die Lage an der Grenze (zu Belarus) ist sehr angespannt, es muss mit verschiedenen Provokationen gerechnet werden“, warnte Polens Innenminister Mariusz Kaminski.
Die Geflüchteten aus Afrika und Arabien wird diese politische Gemengelage indes nicht von einem Transitversuch über Polen nach Westeuropa abhalten. „Es kommen immer größere und aggressivere Migranten-Gruppen an, die klar von den belarussischen Geheimdiensten gesteuert und unterstützt werden“, klagte jüngst Anna Michalska, die Pressesprecherin des polnischen Grenzschutzes. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass der Grenzschutz seine Aufgabe darin sieht, diese Gruppen zurückzudrängen. Laut polnischen Flüchtlingsaktivisten wird den Migranten manchmal vom Grenzschutz geraten, den einzigen noch offenen Grenzübergang zu Belarus bei Terespol, rund 60 Kilometer Fußmarsch gen Süden durch Wälder und Sümpfe zu suchen und dort allenfalls einen Asylantrag zu stellen. Dies ist rechtskonform gemäß Genfer Flüchtlingskonvention, aber für Ortsfremde kaum zu schaffen.
In den Wäldern an der Grenze zu Belarus – und neuerdings auch in Mauren an der Grenze zur russischen Exklave Kaliningrad (Königsberg) – werden so weiterhin Menschen herumirren und schlimmstenfalls verhungern oder erfrieren – egal, ob ihnen vorher belarussische Beamte geholfen haben, den Zaun zu überqueren oder nicht.
De Maart
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