Causa DJ Se7enThe Sound of Rape Culture: „Alle wussten es, niemand hat etwas unternommen“

Causa DJ Se7en / The Sound of Rape Culture: „Alle wussten es, niemand hat etwas unternommen“
Debatte am Mischpult: Die Vorwürfe gegen DJ Se7en eskalierten im Mai Foto: Editpress-Archiv

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DJ Se7en sorgt derzeit für Schlagzeilen: Ihm wird unter anderem sexualisierte Gewalt vorgeworfen. Sein Verhalten gegenüber Frauen war längst bekannt – auch seinem ehemaligen Arbeitgeber Eldoradio. Das Tageblatt bat um eine Stellungnahme, sprach mit DJs und einer Klägerin.

„Alle wussten es, niemand hat etwas unternommen“, gesteht DJ Joé Simon, kurzzeitig Mitglied von DJ Se7ens Kollektiv Madness, dem Tageblatt. Gemeint sind die Anschuldigungen gegen Se7en, der seit 2009 auf Partys und Festivals auflegt sowie bis vor Kurzem Sendungen bei Eldoradio übernahm: Am Mittwoch berichtete RTL über mehrere Frauen, die dem Anfang 30-Jährigen Erpressung und sexualisierte Gewalt vorwerfen. Mindestens zwei Anzeigen liegen vor; weitere Betroffene stehen mit der Organisation „Voix des survivantes“ in Kontakt. Bis zum Urteil gilt selbstverständlich die Unschuldsvermutung.

Fest steht jedoch, dass die Causa Se7en keine Ausnahme ist, sondern ein weiteres Beispiel für die Missbrauchskultur, in der wir leben: Erzählungen über sexualisierte Gewalt werden nicht ernst genommen, höchstens wenn es zur Anklage kommt. Bis dahin stehen potenzielle Betroffene regelmäßig unter Verdacht, sich die Geschehnisse ausgedacht, sie durch ihr Verhalten provoziert oder überzogen dargestellt zu haben. Vor allem, wenn eine Person des öffentlichen Lebens involviert ist.

In den sozialen Medien kursieren die Anschuldigungen gegen Se7en schon seit Wochen: Der DJ Joé Mersch publizierte dort anonyme Zeugenaussagen mutmaßlicher Betroffener. DJ Joé Simon äußerte sich zunächst hingegen nicht öffentlich zu den Vorfällen, obwohl er im Zuge laufender Ermittlungen bereits letztes Jahr gegen Se7en aussagte. „Als er 2024 den provokanten Song ‚Fck Rumors‘ publizierte, ist mir der Kragen geplatzt“, sagt er. Er hat sich von Se7en distanziert, unterstützt inzwischen aktiv Frauen, die juristisch gegen Se7en vorgehen möchten – darunter auch Anna*, die ihre Erlebnisse mit dem Tageblatt teilte.

Lange hatte sie Angst, Anzeige zu erstatten. „Ich dachte, dadurch verschlimmert sich die Situation“, sagt sie. „Noch dazu habe ich die Schuld immer bei mir gesucht.“ Erst durch den Beistand von DJ Joé Simon, weiteren ehemaligen Kollegen von Se7en und ihrem nahen Umfeld habe sie den Schritt gewagt. Die Polizei nahm sie allerdings zunächst nicht ernst und bat sie bei der Anzeigenerstattung um mehr Klarheit. „Das fiel mir schwer, weil so viel passiert ist“, erinnert Anna sich. Der Umgang mit den Behörden habe sich beim zweiten Zusammentreffen verbessert.

Mitwisser

Se7en stritt die Vorwürfe derweil Anfang Mai in den sozialen Netzwerken ab und verwies auf ein laufendes Gerichtsverfahren. In seinem Beitrag spricht er vom Rückhalt langjähriger DJ-Kollegen und Eventorganisatoren. Niemand könne die Anschuldigungen bestätigen. Ein Blick in die Szene ergibt ein anderes Bild, denn DJ Joé Simon ist nur einer von vielen DJs, die den Kontakt zu Se7en vor Monaten abbrachen. Mehrere DJs berichten von Se7ens Frauenfeindlichkeit, problematischen Sextapes und seinem Interesse an Minderjährigen. Angeblich soll er die Frauen angelockt haben, indem er ihnen Kontakte zu bekannten DJs versprach und seinen eigenen Ruhm beteuerte. Keiner der befragten luxemburgischen DJs will Se7en bei seiner Masche unterstützt haben. Einige von ihnen wohnten den privaten Partys bei, bei denen es hinter verschlossenen Türen zu Übergriffen gekommen sein soll. Ein Geheimnis war Se7ens Umgang mit Frauen jedenfalls nicht, weder im Nachtleben noch bei Eldoradio, der Se7en seit 2016 als freien Mitarbeiter beschäftigte.

Wir haben erst dann reagiert, weil wir uns nicht auf Gerüchte stützen. Wir haben auf Anklagen gewartet.

Tony Ewen, Direktor Eldoradio

Der Radiosender, immerhin einer der meistgehörten in Luxemburg (Stand: 2022), soll mindestens seit September 2023 von den Anschuldigungen gegen Se7en gewusst haben. Zu dem Zeitpunkt lag bereits eine Anzeige gegen den DJ vor. Ein Mitarbeiter von Eldoradio, der unmittelbar mit Se7en zusammenarbeitete, spielte die Informationen laut mehreren Quellen herab. „Das sind alles Kneipengespräche“, wird er zitiert. Im Januar wurde der Sender erneut auf die Vorwürfe gegen Se7en hingewiesen. Die Konsequenzen blieben aus, bis es im Mai zu der eingangs erwähnten Eskalation kam. „Wir haben erst dann reagiert, weil wir uns nicht auf Gerüchte stützen. Wir haben auf Anklagen gewartet“, bezieht Tony Ewen, Direktor von Eldoradio, auf Nachfrage des Tageblatt Stellung. Inzwischen sei die Kooperation mit Se7en aufgelöst. Auf Instagram nennt Se7en sich trotzdem immer noch „Offical DJ“ von Eldoradio. Ewen will sich nicht zu Gesprächen mit Se7en äußern. Auch gibt er keine Auskunft darüber, ob der DJ im Fall eines Freispruchs wieder für Eldoradio ans Mischpult treten darf. Der Direktor verweist auf die Unschuldsvermutung und auf die Justiz, die jetzt ihrer Arbeit nachgehen müsse.

Systemfehler

Wie so oft in Missbrauchsfällen steht also auch hier der Schutz eines vermeintlichen Täters über dem Vertrauen in mögliche Opfer. Diese Dynamik beobachtet man sowohl in der #MeToo-Bewegung als auch bei den kürzlichen Debatten um Till Lindemann, den Frontsänger der Band Rammstein. Lindemann wurde wegen Missbrauchs angeklagt und aufgrund mangelnder Beweise freigesprochen. Das Urteil ist in diesem Fall nebensächlich: Wichtiger ist der Umgang mit den Klägerinnen, die von der breiten Öffentlichkeit von vornherein als naive Groupies degradiert wurden, während man Lindemann noch vor der Urteilsverkündung verteidigte.

Es gibt einem Sicherheit, wenn man sich ernst genommen fühlt

Anna

In der luxemburgischen DJ-Szene scheinen vergleichbare Haltungen die Ausnahme, doch fielen auch im Zuge der Recherche zu Se7en vereinzelt respektlose Sätze gegenüber Frauen und ihrem angeblich anbiedernden Verhalten im Club. „Viele Frauen und Mädchen trauen sich aus solchen Gründen nicht, über ihre Erlebnisse zu sprechen“, so DJ Joé Simon. Nach Zahlen des Statec (2022) suchen allgemein 77 Prozent der Männer und 79 Prozent der Frauen im Anschluss an eine Gewalterfahrung keine professionelle Hilfe – weder bei der Polizei noch bei anderen Anlaufstellen.

Anna nimmt ebenfalls keine professionelle Hilfe in Anspruch. Sie verfolgt die Debatte um Se7en trotz ihrer Erlebnisse und wird von ihrem Umfeld unterstützt. Bis jetzt überwiegt auch in den sozialen Medien die Solidarität mit den Frauen. Trotzdem wünscht Anna sich mehr Aufklärungsarbeit zu toxischen Beziehungen, ganz gleich, ob auf romantischer oder freundschaftlicher Ebene: Wer darin feststecke, merke dies nämlich oft zu spät. Am Ende fordert sie außerdem mehr Feingefühl von den Einsatzkräften: „Es gibt einem Sicherheit, wenn man sich ernst genommen fühlt.“

* Name von der Redaktion geändert

Guy Mathey
2. Juni 2024 - 18.56

Häufig kommt es vor, dass ein mutmasslicher Vergewaltiger gar nicht abstreitet, dass es zum Geschlechtsverkehr gekommen sei, jedoch behauptet, alles sei einvernehmlich gewesen. Dies hat zur Folge, dass es oft schwierig ist, das Gegenteil zu beweisen, der Frau wird nicht geglaubt und die Verfahren werden eingestellt oder enden mit Freispruch. Warum eigentlich? EU - weit muss unbedingt zeitnah die "nur ein Ja ist ein Ja" - Regel eingeführt werden, leider wurde kürzlich eine derartige Initiative vom französischen Präsidenten Macron und vom deutschen Bundesjustizminister Buschmann (FDP) verhindert. Es wäre in der Tat absolut im Sinne des Rechtsstaates und somit der Opfer, wenn künftig der mutmassliche Täter beweisen müsste, dass er nicht gegen die "nur ein Ja ist ein Ja" Regel verstossen hat. Am 20.10.2018 schreibt der ORF über den minimalen Anteil an Falschbeschuldigungen, welche, je nach Studie, zwischen zwei und acht Prozent liegen, durchschnittlich also bei 5 Prozent! Dabei ist zu beachten, dass der grösste Teil an Vergewaltigungen nicht zur Anzeige gebracht wird. In Deutschland geht man übrigens von 3 Prozent aus. In Anbetracht der für die Opfer extrem belastenden Prozeduren, welche im Rahmen einer Vergewaltigungsanzeige bei der Polizei zu durchlaufen sind, kann wohl jede(r) nachvollziehen, dass kaum jemand aus "Jux und Tollerei" und ohne Anlass eine Vergewaltigung zur Anzeige bringen wird!

Goebel Frank
30. Mai 2024 - 14.24

Was schlagen Sie vor, Guy? Soll beim Vorwurf von Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung die Unschuldsvermutung abgeschafft werden? Sowas hat ja z.B. einmal Alice Schwarzer gefordert: Dass beim Vorwurf der Vergewaltigung der mutmaßliche Täter sofort als schuldig gelten und dann seine Unschuld beweisen müsse. Ade, Rechtsstaat! Ansonsten erwähnen Sie mehrmals nebulös Statistiken, z.B. "betreffend Falschaussagen in Zusammenhang mit sexueller Belästigung". Können Sie da einen seriösen Beleg geben? Es gibt schließlich kaum ein Delikt, das schwerer zu beleuchten ist als sexuelle Belästigung. Gesicherte Zahlen zur Rate der Falschaussagen müsste man daher wohl umso mehr aus Kaffeesatz lesen. Übrigens: Ein "vermeintlicher" Täter wäre dem Wortsinne nach keiner. Sie und die Autorin meinen wahrscheinlich eher "mutmaßliche" oder "mögliche" Täter.

Goebel Frank
30. Mai 2024 - 14.04

„Lindemann wurde wegen Missbrauchs angeklagt und aufgrund mangelnder Beweise freigesprochen.“ Es beunruhigt, dass dieser Satz gleich drei falsche Behauptungen aufstellt. Es gab weder eine Anklage noch einen Prozess, also auch keinen Freispruch, schon gar nicht "aufgrund mangelnder Beweise". Vielmehr hat die Berliner Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen eingestellt. Es ist also gar nicht erst zu einer Anklage gekommen. Dies auch, soweit bekannt, weil keine einzige mutmaßlich betroffene Person entsprechende Anzeigen erstattet hatte, sondern nur unbeteiligte Dritte.

Guy Mathey
24. Mai 2024 - 20.31

Wie Isabel Spigarelli korrekterweise schreibt, steht der Schutz vermeintlicher Täter derzeit stets über dem Schutz der möglichen Opfer, was natürlich völlig inakzeptabel ist! Und genau dies veranschaulicht, wo unsere Gesellschaft im Umgang mit Sexualdelikten, welche von Vielen immer noch als Kavaliersdelikt betrachtet werden, krank ist! Im Fall einer Beschuldigung wegen sexueller Übergriffe müssen diese immer sofort und ab der ersten Beschuldigung ernst genommen und geprüft werden. Es ja möglicherweise Gefahr im Verzug und es gilt Massnahmen zu ergreifen um zu verhindern, dass weitere Personen geschädigt werden! Ob der vermeintliche Täter tatsächlich schuldig ist müssen anschliessend die Gerichte klären. Übrigens belegen Statistiken, dass die Anzahl falscher Beschuldigungen in diesem Bereich sehr gering ist. Allen Opfern möchte ich wärmstens empfehlen Anzeige zu erstatten, auch wenn diese derzeit bei der Polizei noch nicht immer korrekt gehandhabt werden. Mindestens sollte man ggf erlittene Verletzungen dokumentieren lassen, damit sie ggf später als Beweismittel dienen können, sollten sich die Opfer erst später zu einer Anzeige entschliessen. Zudem sollten die Opfer mit ihren Erlebnissen nicht alleine bleiben und keinesfalls zögern professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, welche Ihnen helfen kann erlittene Traumata besser aufzuarbeiten. Ein gutes Angebot existiert in Luxemburg. Organisationen, wie z.B. la Voix des survivant(e)s können Sie unterstützen.

Guy Mathey
24. Mai 2024 - 12.49

Mitwisser, welche untätig bleiben sind wirklich allesamt erbärmliche Gestalten! Bewusste unterlassene Hilfeleistung sollte in derartigen Fällen hart bestraft werden. Aller unterste Schublade ist im übrigen das Verhalten und die Stellungnahme des Eldoradio Direktors: Selbstverständlich gilt die Unschuldsvermutung bis zur Verurteilung, allerdings hätte man die Zusammenarbeit bis zur Klärung der Vorwürfe unbedingt suspendieren müssen! Bei ELDORADIO sollte man sich mal dringend mit den Statistiken betreffend Falschaussagen in Zusammenhang mit sexueller Belästigung beschäftigen!