Karlsruher Südstadt vor etwa 30 Jahren. Das Publikum strömt aus der Schauburg, dem besten Kino der badischen Metropole. Als wir – mein guter Freund Frank, der mich jede Woche ins Kino begleitete, und ich – die Kneipe neben dem Lichtspielhaus betreten, sind wir uns beide im Klaren darüber, dass wir den Film, den wir soeben gesehen haben, nicht mehr vergessen werden: „Pulp Fiction“ von Quentin Tarantino. Es war ein cineastisches Erlebnis. Wir wollen den Film sogar so schnell wie möglich wieder anschauen. Was wir eine Woche später in die Tat umsetzen.
Als 30 Jahre, nachdem ich „Pulp Fiction“ in meinem Karlsruher Stammkino gesehen habe, aus Anlass des Jubiläums der Film wieder gezeigt wird, kenne ich noch immer einige der Dialoge auswendig – etwa jenen legendären zwischen den beiden Gangstern Vince Vega und Jules Winnfield (gespielt von John Travolta und Samuel L. Jackson): „Weißt du, wie die einen Quarter Pounder mit Käse in Paris nennen?“, fragt Vince, der einige Jahre in Europa verbrachte, seinen Kumpel auf dem Weg zu einem Auftrag. „Die nennen ihn nicht Quarter Pounder mit Käse?“, entgegnet Jules. „Nein, Mann, die haben das metrische System, die wissen gar nicht, was ein Quarter Pounder ist!“ – „Wie nennen sie ihn?“ – „Die nennen ihn Royal mit Käse.“ – „Royal mit Käse?“ – „So ist es.“ – „Wie nennen die einen Big Mac.“ – „Ein Big Mac ist ein Big Mac, aber die nennen ihn Le Mack.“ – „Le Big Mack. Ha ha ha.“
Tarantino wusste schon damals, dass nicht jeder gute Schauspieler seine Dialoge sprechen konnte: „Not everybody has a mouth to say my dialogue.“ Man müsse sie verinnerlichen, ihren Rhythmus aufnehmen und die Komik darin erkennen, obwohl sie eigentlich nicht witzig sind, schließlich bekommen Banalitäten bei Tarantino eine besondere Bedeutung. Und so ist es wenig verwunderlich, dass der Film bis in die kleinsten Nebenrollen ideal besetzt ist.
Schachteln und Popkultur
Nach seinem Regiedebüt, dem blutigen Kammerspiel „Reservoir Dogs“ (1991), mit dem der Filmemacher die Messlatte bereits ziemlich hoch gelegt hatte, und mit den beiden Drehbüchern für Tony Scotts „True Romance“ (1993) und Oliver Stones „Natural Born Killers“ (1994), die nicht besonders gelungen umgesetzt wurden, übertraf Tarantino mit „Pulp Fiction“ alle Erwartungen und setzte filmische Maßstäbe.
Der verschachtelte Film ist voller Anspielungen auf Klassiker des Kinos – etwa auf die legendären Streifen der „Schwarzen Serie“ der 40er Jahre, denen Vince und Jules in ihren schwarzen Anzügen entsprungen zu sein scheinen – und spielt mit Versatzstücken der damaligen Popkultur. Ähnliches kannte man von den Regisseuren der französischen Nouvelle Vague, insbesondere von Jean-Luc Godard. Nicht zuletzt die Tanzszene mit Travolta und Uma Thurman ist an die aus Godards „Bande à part“ von 1964 angelehnt.
Vince fühlt sich nicht wohl, denn er soll auf Marsellus’ Frau Mia (Thurman) aufpassen. Sein Vorgänger soll angeblich aus dem Fenster eines vierten Stockwerks gefallen sein, weil er Mia nur die Füße massiert hatte. Vince hingegen führt Mia in das Burger-Restaurant „Jack Rabbit Slim’s“ aus, dessen Sitznischen Straßenkreuzer-Cabrios der 50er entlehnt sind, die Bedienungen sind Doubles von Film- und Popikonen wie Marilyn Monroe, James Dean und Buddy Holly. Vince und Mia nehmen an einem Twist-Wettbewerb teil. Tarantino spielt hier mit Travoltas Image als einstigem Jugendstar aus „Saturday Night Fever“ (1977).

In „Die goldene Uhr“ geht es um den Boxer Butch Coolidge (Bruce Willis). Auch er ist von dem schwarzen Gangsterboss Marsellus abhängig. Butch soll gegen Geld in seinem nächsten Fight in der fünften Runde k.o. gehen. Doch er entschließt sich kurzerhand zu siegen, das Preisgeld einzustecken und mit seiner französischen Freundin Fabienne (Maria de Medeiros) abzuhauen. Vorher war zu sehen, wie Butch als Kind die goldene Uhr seines Vaters, den er nie gekannt hatte, von einem Vietnam-Veteranen (Christopher Walken) überreicht bekommt. Dieser erzählt dem kleinen Butch, dass sein Vater sie im Vietnamkrieg die ganze Zeit im Anus versteckt hatte.
Die Uhr ist ein klassischer MacGuffin, wie jener mysteriöse Aktenkoffer. Wie in den meisten B-Movies müssten darin eigentlich Geld oder Drogen sein. Doch die Nummer des Kofferschlosses ist 666, die Zahl des Teufels. Wenn der Koffer geöffnet wird, scheint es golden aus ihm. Aus den coolen Gangstern Vince und Jules werden im Nu kaltblütige Killer, als sie den Koffer abholen und fast beiläufig drei junge Männer erschießen. Den vierten, den sie in ihrem Chevrolet Nova mitnehmen, erwischt es auf dem Rücksitz. Er muss eher durch Zufall daran glauben, weil eine Bodenwelle Vinces Schuss ausgelöst hat. Das Innere des Chevy ist voller Blut. Die beiden Gangster finden Unterschlupf bei Jim (Quentin Tarantino). Sie rufen Winston Wolf (Harvey Keitel), den effizienten Cleaner für Notfälle. Er leitet die beiden Killer in ihrer fast demütig ausgeführten Säuberung des Wagens an. Hier wie in anderen Szenen glänzt der Film vor Situationskomik, als etwa Wolf die blutbesudelten Vince und Jules mit dem Wasserschlauch abspritzt und sie danach in bedruckten T-Shirts und Shorts auftreten.
Auge fürs Detail
Tarantino legt einerseits Wert auf Details, wenn zum Beispiel einem Toaster und Vinces Neigung zu ausgedehnten Toilettensitzungen fatale Bedeutung zukommen. Andererseits spielt er mit dem Thema der Gewalt. In den 90er Jahren hatte deren Darstellung in Filmen zunehmend größeren Raum eingenommen. Dafür stehen Filme wie „Wild at Heart“ (1990) von David Lynch, aber eben auch Stones „Natural Born Killers“. Der Philosoph Jean Baudrillard thematisierte dies in seinem Vortrag „La violence faite aux images“ und bezog sich sowohl auf fiktionale als auch auf dokumentarische Bilder. In „Pulp Fiction“ ist die Gewalt zwar ständig präsent, wird aber nur selten explizit gezeigt. Tarantinos elliptische Auslassungen gelten auch der Action des Films, die größtenteils nur angedeutet wird. Actionhaltig ist vor allem die Szene, als Mia Vinces Vorrat an Heroin entdeckt, diesen für Kokain hält und sich eine Überdosis in die Nase zieht. Vince fährt mit ihr zu seinem Dealer (Eric Stoltz) und verpasst der Gangsterbraut eine gigantische Adrenalinspritze. Gänzlich ausgespart wird übrigens Butchs Boxkampf.
Ein zentrales Thema des Films ist die „Moral“, die sich wie ein roter Faden durch alle drei Geschichten zieht. So rettet etwa Butch, obwohl er abhauen könnte, seinem Boss Marsellus das Leben. Vor allem Jules scheint geläutert zu sein, nachdem ihn die ihm geltenden Kugeln auf wundersame Weise verfehlt haben. Ein göttlicher Fingerzeig? Bevor er schießt, philosophiert er über sich selbst, zitiert eine Bibelstelle aus Hesekiel und entscheidet sich, danach auf dem Pfad der Gerechten und des „Guten“ zu wandeln. Und er beschließt, Ringo und Honey Bunny am Leben zu lassen. Mit dieser Rückkehr zur Rahmenhandlung endet der Film.
„Tarantinomania“
„Pulp Fiction“ hat das Riesentalent Tarantino zum Starregisseur gemacht. Mit ihm setzte die „Tarantinomania“ ein, wie unter anderem der Filmkritiker Peter Körte das Phänomen nannte. Viele versuchten, ihm nachzueifern. Die Kritik war begeistert und schrieb von einem „postmodernen Kino“. Außer durch seine nichtlineare Erzählweise und durch die witzigen, diskursiven, aber gänzlich unstilisierten Dialoge besticht der Film nicht zuletzt durch den aus einer Mixtur von Surfbeat bis Seventies-Pop bestehenden Soundtrack. Als „Pulp Fiction“ im Mai 1994 in Cannes lief, schlug er dort wie ein Meteorit ein und wurde mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Tarantino hat es geschafft, mit „Pulp Fiction“, aber auch mit späteren Werken, aus filmischen Hommagen an Genre-Klassiker, Exploitation-Streifen und B-Movies des schmutzigen Grindhouse-Kinos einen eigenen Stil zu entwickeln. Ein Tarantino-Universum. Ein Tarantinoversum.
30 Jahre danach spreche ich per Videocall mit Frank. Er ist auf seiner kleinen Farm im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas. Die Region an der Grenze zu Guatemala ist zurzeit von zwei Kartellen umkämpft. Chiapas ist Transitgebiet für den Drogenschmuggel. Im Hintergrund sind Geräusche aus dem Wald zu hören. Doch davon bekommt Frank nichts mit. Ich erzähle ihm von meinem Kino-Besuch – und wir fangen an: „Weißt du, wie die einen Quarter Pounder mit Käse in Chiapas nennen?“, fragt er. Und ich entgegne: „Die nennen ihn nicht Quarter Pounder mit Käse?“
De Maart

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