Mittwoch29. Oktober 2025

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BrasilienTageblatt-Journalist vor Ort berichtet: Hintergründe der blutigen Schießerei in den Favelas

Brasilien / Tageblatt-Journalist vor Ort berichtet: Hintergründe der blutigen Schießerei in den Favelas
Schwer bewaffnete Beamte der „Operação Contenção“ führen einen Verhafteten aus dem Complexo de Penha in Rio de Janeiro ab Foto: AFP/Mauro Pimentel

Wie konnte es zu den vielen Toten bei einem Polizeigroßeinsatz in der brasilianischen Metropole kommen? Eine Antwort liegt darin, dass der Staat und die staatlichen Behörden längst die Kontrolle über die Armenviertel der Stadt verloren haben.

Ein Polizist sitzt auf dem Trottoir und weint. Er reibt sich die Tränen aus dem Gesicht, schüttelt den Kopf. Vier seiner Kameraden sind gerade bei einem Schusswechsel getötet worden. Einer davon ist Marcos Vinícius Cardoso de Carvalho. Er war noch am Tag zuvor zum Ermittlungsleiter befördert worden. Dem 51-Jährigen wurde in den Kopf geschossen. Er war unter dem Namen „Máskara“ bekannt. Ein anderer ist der 34-jährige Zivilpolizist Rodrigo Velloso Cabral. Er wurde in den Hinterkopf getroffen. Er hatte seinen Dienst bei der Polizei vor kaum zwei Monaten angetreten. In den sozialen Netzwerken teilte er Fotos von Reisen mit seiner Frau und seiner Tochter und von Familienausflügen. Die beiden anderen gehörten zur berühmten Spezialeinheit Batalhão de Operações Policiais Especiais (BOPE): Cleiton Serafim Gonçalves und Heber Carvalho da Fonseca. Der Polizeichef Bernardo Leal wurde am Bein angeschossen und schwebt in Lebensgefahr.

Ein gewisses Charisma kann Luiz Fernando da Costa nicht abgesprochen werden. Der 1967 in Duque de Caxias in Rio de Janeiro geborene Häftling ist besser bekannt als Fernandinho Beira-Mar, der bekannteste Kriminelle Brasiliens und Kopf des Comando Vermelho, des Roten Kommandos, der mächtigsten Verbrecherorganisation der Millionenmetropole. Einst war sie in den späten 70er Jahren in einem Gefängnis auf der Ilha Grande vor der Küste Rio de Janeiros als Widerstandsgruppe und Schutzgemeinschaft der Häftlinge gegen die Wärter und die unmenschliche Situation der Inhaftierten entstanden. Früh begann er mit gestohlenen Waffen zu handeln und wurde dafür zu einer Haftstrafe verurteilt. Nach seiner Freilassung öffnete er in mehreren Favelas neue Vertriebswege für Kokain aus Kolumbien. 1996 wurde er erneut verhaftet, konnte aber entfliehen und lebte im südamerikanischen Ausland, bis er 2001 in einer gemeinsamen Aktion der kolumbianischen Armee und der US-Drogenbehörde DEA festgenommen und nach Brasilien ausgeliefert wurde. Seither saß Beira-Mar in verschiedenen Hochsicherheitsgefängnissen. Im September 2002 wurde er zu 120 Jahren Gefängnis verurteilt, seine Strafe wurde um weitere 30 Jahre verlängert, weil ihm der Tod eines Studenten im Jahr 1999 zur Last gelegt wurde. Mittlerweile sollen es mehr als 200 Jahre sein. Auch seine frühere rechte Hand Elias Maluco wurde inhaftiert. Im Knast studierte Beira-Mar Betriebswirtschaft und schloss ein Theologie-Studium ab.

Barrikaden in verschiedenen Stadtteilen

Was hat dies mit der bisher tödlichsten Polizeiaktion in der Geschichte von Rio de Janeiro zu tun, die am Dienstag stattfand? Die Schießerei zwischen der Polizei und den Banditen des Comando Vermelho, die 132 Todesopfer forderte, davon vier Polizisten, hat erneut gezeigt, wie groß die Bedrohung für Staat und Gesellschaft durch das organisierte Verbrechen in Brasilien ist. Die Drogenhändler hatten Straßen und Schnellstraßen abgesperrt und setzten sogar Drohnen ein, um Bomben abzuwerfen. Die groß angelegte und lange vorbereitete Operation der Zivil- und Militärpolizei fand in den Favelas Complexo de Alemão und Complexo de Penha im Norden Rios statt. Ziel war es, 94 Haftbefehle gegen Anführer des Comando Vermelho aus Rio und anderen Bundesstaaten zu vollstrecken. 81 wurden festgenommen. An der Operation waren 2.500 Beamte beteiligt. Die Drogenhändler reagierten auf deren Eintreffen mit brennenden Barrikaden und zahlreichen Schüssen, nach einigen Berichten rund 200 pro Minute. Anwohner filmten Leuchtspurgeschosse aus ihren Fenstern. Aufnahmen der Polizei zeigen bewaffnete Gangster, die durch den Wald fliehen, Zivilpolizisten verfolgen sie auf einem Waldweg, während Männer des BOPE die Banditen von der anderen Seite umzingelten.

94


Die Behörden wollten 94 Haftbefehle gegen Anführer des Comando Vermelho aus Rio und anderen Bundesstaaten vollstrecken

Die Auswirkungen waren in der ganzen Stadt zu spüren. Als Vergeltungsmaßnahme errichteten Kriminelle in verschiedenen Stadtteilen Barrikaden aus Bussen, Autos oder Müllcontainern, um den Verkehr zu behindern. Die Linha Amarela, die wichtigste Schnellstraße zwischen dem Norden und Westen von Rio, wurde im Laufe des Tages mehrmals gesperrt. Rund um Cidade de Deus, einer ebenfalls vom Comando Vermelho dominierten Gegend im Südwesten, wurden Busse quer über die Fahrbahn gestellt, ebenso im Stadtzentrum. Insgesamt zählte die Stadtverwaltung 34 Blockaden auf Straßen in allen Regionen, mit Ausnahme des Südens. Wer sich in den Verkehr wagte, wurde Zeuge von Kriegsszenen, mit Polizisten in Schussposition am Rande der Schnellstraße. Wer im Stau stecken blieb, versteckte sich hinter Autos, um etwas Schutz zu suchen.

Ungeordnete Urbanisierung

Das Krankenhaus Getúlio Vargas, das der Region am nächsten liegt, nahm den ganzen Tag über Opfer beider Seiten dieses Krieges auf. Während die Banden die Viertel mit einer auf Gewalt und Terror basierenden Parallelmacht besetzen, sucht der Staat nach Mitteln, um die von ihnen beherrschten Gebiete zurückzuerobern, in denen Kriminelle für grundlegende Dienstleistungen, Schutz und Wohnraum Geld verlangen. Sie nutzen die Abwesenheit des Staates aus. Die Rückeroberung und die vollständige Kontrolle über die besetzten Gebiete in der „Cidade Maravilhosa“ scheint eine Utopie zu sein, schreibt die Gazeta do Povo.

Die getöteten mutmaßlichen Bandenmitglieder liegen in einer Straße des Viertels des Complexo de Penha im Norden Rios
Die getöteten mutmaßlichen Bandenmitglieder liegen in einer Straße des Viertels des Complexo de Penha im Norden Rios Foto: AFP/Pablo Porciuncula

In einem Interview mit der Zeitung erklärte der ehemalige Sekretär für öffentliche Sicherheit von Paraná und Delegierter der Bundespolizei Wagner Mesquita, dass die Stadt Rio de Janeiro zwei Hauptmerkmale aufweist, die die territoriale Herrschaft krimineller Banden ermöglichen: das Fehlen einer Hegemonie innerhalb der organisierten Kriminalität und die ungeordnete Urbanisierung der kontrollierten Favelas. Er verglich die Aktivitäten des Comando Vermelho in Rio de Janeiro mit denen des Primeiro Comando da Capital (PCC), einer in den Gefängnissen von São Paulo entstandenen kriminelle Organisation, die das organisierte Verbrechen im Bundesstaat São Paulo dominiert und durch Korruption, Geldwäsche und sogar durch die Teilnahme an Ausschreibungen in die öffentliche Verwaltung eingedrungen ist: „Die Comando Vermelho dominiert, ist aber nicht hegemonial. Es gibt noch andere Banden, die ebenfalls Zugang zu Drogen und Waffen in den Favelas haben. Dort existiert der Staat nicht. Es gibt keine Straßen, keine Bürgersteige, keine öffentlichen Dienstleistungen, es gibt nichts. Es gibt nur diese Ansammlung von Menschen, die unter prekären Bedingungen und unter dem Diktat der Kriminalität leben.“

Der wahre Kopf der Band sitzt im Gefängnis

Clayton Silva, Oberst der Reserve der Militärpolizei von Rio, erklärt, dass Untersuchungen ergeben haben, dass Mitglieder des Comando Vermelho von früheren Polizisten ausgebildet wurden und durch Waffenhandel mit schweren Waffen ausgerüstet sind. „Diese Personen kennen bereits die Praktiken der regulären Streitkräfte“, sagt er. Ihm zufolge handelt es sich bei diesen Aktionen um Praktiken der städtischen Guerilla, die auf Wissen zurückgehen, das von Angehörigen der öffentlichen Sicherheitskräfte weitergegeben wurde, was ebenfalls auf eine Unterwanderung der öffentlichen Verwaltung durch die Banden hindeutet, sei es durch Korruption oder durch Zugang zu privilegierten Informationen.

Die Polizei fahndet übrigens weiter nach dem derzeitigen Anführer der Bande, Edgard Alves Andrade, bekannt als Doca oder Urso. Er gilt als der meistgesuchte Mann in Rio de Janeiro. Doch der wahre Kopf des Commando Vermelho dürfte, so behaupten viele, nach wie vor Fernandinho Beira-Mar sein, obwohl er seit fast 20 Jahren im Gefängnis sitzt. Das Nationale Sekretariat für Strafvollzugspolitik hebt in einer Stellungnahme hervor, dass Beira-Mar einen negativen Einfluss auf die Häftlinge ausübt, indem er sie mit finanzieller, rechtlicher und gesundheitlicher Hilfe manipuliert. Er soll seine Organisation per Smartphone steuern. Und über eine intellektuelle Fähigkeit verfügen, seinem Handeln einen philosophischen Sinn zu verleihen. In Interviews ist er freundlich und alles andere als unsympathisch. Er habe sich für das Verbrechen entschieden, sei aber kein Monster. Vieles sei eine Frage des Managements. Er scherzt und streitet ab, spricht von seinen Plänen, Bücher zu schreiben, hört aber auch aufmerksam zu und ist zuvorkommend – trotzdem ist er wohl einer der gefährlichsten Häftlinge der Welt. Und gegen Ende eines langen Interviews sagt er, dass der Drogenhandel sich nicht lohne.

Einige der bei der Razzia im Complexo de Penha verhafteten mutmaßlichen Bandenmitglieder 
Einige der bei der Razzia im Complexo de Penha verhafteten mutmaßlichen Bandenmitglieder  Foto: AFP/Mauro Pimentel