Tageblatt: Herr Sander, fehlt es der EU an Seele?
Wolfgang Sander: Ja. Das hat schon der französische Europapolitiker Jacques Delors (1925-2023) Anfang der 90er-Jahre gesagt. Damals stand der Maastrichter Vertrag an und der Euro als gemeinsame Währung vor der Tür. In seinen Augen konnte das nicht alles sein.
Es gibt gerade gute Gründe, sich über europäische Identität Gedanken zu machen, oder?
Allerdings. Wir haben momentan ein hohes Maß an Einigkeit durch die Bedrohung durch Russland. Das reicht aber nicht. Man kann nicht langfristig die Einigkeit der EU auf ein Bedrohungsgefühl von außen aufbauen. Eine europäische Identität muss von tagesaktuellen Fragen unabhängig sein.
Der Artikel 1a des Vertrags von Lissabon (2007) definiert aber doch Werte. Reichen sie nicht?
Das sind mehr als ein Dutzend Begriffe, die auf unterschiedlichen Ebenen spielen. Rechtsstaatlichkeit ist ein Prinzip staatlicher Ordnung, Toleranz ist eine Verhaltenserwartung an die Bürger und es gibt völlig unklare Begriffe wie Nicht-Diskriminierung. Das sind nur drei Beispiele, die zeigen, der Artikel ist ein Formelkompromiss. Dahinter steckt keine kohärente Vorstellung.
„In Vielfalt geeint“, heißt es seit dem Jahr 2000. Reicht auch nicht, sagen Sie …
Man kann auf Vielfalt keine Identität gründen. Vielfalt ist immer die Ausgangsposition von Politik, wie die Philosophin Hannah Arendt richtig sagte. Unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Sichtweisen und unterschiedliche Ziele führen zu Konflikten, die Politik letztendlich regeln muss. Wenn Vielfalt die Ausgangslage von Politik ist, dann kann sie nicht das identitätsstiftende Merkmal einer politischen Einheit sein.
Sie unterstellen, die EU werde nur praktisch wahrgenommen. Reisefreiheit, Wohlstand und Frieden. Ist das so?
Zunächst spricht ja nichts dagegen. Wenn die EU keine praktisch spürbaren Vorteile hätte, hätte sie keine Chancen auf Erfolg. Politische Verbünde, die auf lange Sicht stabil sein sollen, können aber nicht nur in Schönwetterperioden funktionieren. Sie müssen auch in Krisen funktionieren, also auch dann, wenn man keinen materiellen Vorteil hat.
Sie sagen, die EU sei zwar mit der Osterweiterung (2004) geografisch gewachsen, aber die neuen Mitglieder sind auch mehr als 20 Jahre später nicht wirklich integriert. Warum?
In Westeuropa herrschte lange die Überzeugung, die neuen Mitglieder würden sich dessen kulturellen Gewohnheiten anpassen. Das ist nicht passiert, weil die neuen Mitglieder andere historische Erfahrungen haben.
Welche?
Im Westen war das europäische Projekt nach 1945 und die damit verbundene teilweise Aufgabe nationaler Souveränität ein Friedensprojekt. In Osteuropa ist nationale Souveränität das Friedensprojekt, als Schutzschild gegenüber einer russischen Vereinnahmung. Von der EU wird erwartet, dass sie die nationale Identität dieser neuen Mitglieder schützt.
Gibt es noch andere?
Die osteuropäischen Gesellschaften sind trotz aller Unterschiede im Einzelnen im Vergleich zu den westeuropäischen Gesellschaften traditioneller, konservativer und weniger kosmopolitisch orientiert.
Da sind wir wieder bei der gemeinsamen Identität …
Ja, und zwar auf mehreren Ebenen. Die Frage, welche Kultur verbindet uns, ist nicht geklärt. Auch die Frage, ob die EU nicht eine neue Verfassung braucht, die dieser großen Gemeinschaft angemessen ist, ist ungeklärt. Drittens ist unklar, wo die künftigen Grenzen der EU verlaufen sollen.
Ein Ausweg für Sie ist eine Renaissance der christlichen Werte als identitätsstiftendes Element. Über welche sprechen wir da?
Identität funktioniert immer über eine gemeinsame Geschichte, auf die man sich bezieht. Die europäische Geschichte ist geprägt durch griechische Antike, die ihre Wirkungen hat in Philosophie und Wissenschaft, Stichwort Platon und Aristoteles. Das Zweite ist die römische Geschichte mit ihrem Verständnis von Republik und Recht und das Dritte ist die christliche Religion. Aber die dritte Quelle ist im westlichen Europa in jüngerer Zeit deutlich schwächer geworden. Blickt man aber auf die Welt als Ganzes, dann ist Westeuropa in Sachen Religion die absolute Ausnahme.
Warum?
Die Haltung, dass die Religion durch Moderne und Wissenschaft verschwinden wird, war eine Illusion. Der größte Teil der Welt ist auch heute tief religiös.
Die Kirchen leiden aber unter massivem Mitgliederschwund und überzeugen viele nicht mehr …
In Westeuropa ja, in Polen zum Beispiel eher nicht. Klar ist, die Kirchen haben als Institution ein Problem. Ihre Organisationsform erinnert oft noch an frühere Zeiten, wenn sie zum Beispiel in Deutschland mit Kirchenbeamten, Kirchensteuer und einer großen Verwaltung ähnlich wie ein Staat aufgebaut sind. Hinzu kommt, dass viele Menschen sich heute nicht mehr langfristig in großen Organisationen fest binden wollen. Darunter leiden auch andere, wie Parteien oder Gewerkschaften. Die Kirchen werden überlegen müssen, was eine angemessene Organisationsform für das 21. und 22. Jahrhundert ist.
Über welche christlichen Werte sprechen wir eigentlich?
Aus dem Christentum stammt die Vorstellung, dass alle Menschen moralisch gleich sind und Herkunft, sozialer Status oder Geschlecht keine Rolle für die Wertigkeit von Menschen spielen. Ebenso hat die Idee der individuellen Gewissensfreiheit christliche Wurzeln, ferner die Trennung von Politik und Heil. Der Staat wird akzeptiert, aber er ist nicht für das Seelenheil der Menschen zuständig und hat keine religiöse Qualität.
Sie sagen, diese Rückbesinnung biete die Chance auf eine Korrektur problematischer Entwicklungen westlicher Gesellschaften. Welche sind das?
Nehmen wir als Beispiel das Verständnis von Freiheit. Oft wird sie nur auf die eigene Selbstverwirklichung bezogen. Hier gibt es die Tendenz zur Fixierung auf das eigene Ich, zur Selbstbeobachtung und Selbstoptimierung. Es geht um immer neue Erlebnisse und die Perfektionierung von Einzigartigkeit. Aber das ist mit viel Druck verbunden, denn Optimierung und Perfektionierung des eigenen Lebens sind anstrengend und können jederzeit scheitern. Die christliche Antwort ist erstens: Zu Freiheit gehört Verantwortung für die Mitmenschen und für das Gemeinwesen. Und zweitens: Entspannt euch! Wir sind nicht perfekt und wir werden es auch nicht sein. Bei einer Erneuerung des Freiheitsverständnisses kann die christliche Tradition daher eine wichtige Inspirationsquelle sein.
Luxemburg gehört zu den Gründungsmitgliedern der Europäischen Union. Kommt auf das Land eine große Rolle zu beim Thema europäische Identität?
Das könnte gut sein. Es wird immer mal wieder diskutiert, ob eine Gruppe von Ländern bei der weiteren Integration Europas vorangeht, zum Beispiel mit der Entwicklung einer neuen Verfassung, der andere Länder dann beitreten können. Da wären die Gründungsmitglieder und damit auch Luxemburg auf jeden Fall gefragt. Ohne sie geht es nicht.
Das Buch
Wolfgang Sander: Europäische Identität – Die Erneuerung Europas aus dem Geist des Christentums; Hardcover 2021, 267 Seiten, Evangelische Verlagsanstalt. ISBN 978-3-374-07019-0.
Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“
De Maart



Christliche Werte ? Die grösste und älteste Verbrecherbande der Menschheit. Mord in allen Variationen, Folter, Diebstahl , Prostitution, Pädophilie, um nur einige zu nennen. Ohne Scham und Scheu.
@Hottua,
einverstanden. Theologie- die Wissenschaft mit Flügeln. Wie einst R.Dawkins in seinem Buch schrieb: Die Theologen bestimmen was Sache ist.Und dabei haben sie noch nicht einmal eine Definition für das Wort "Religion". Was christliche Werte sind kann man in der Geschichte nachlesen.Allerdings gilt das für alle drei Buchreligionen. Man schenkt sich da nichts. Als wäre ein Agnostiker oder gar Atheist der schlechtere Mensch! Das Gegenteil ist der Fall. Also.Mit so einer Liste an Schweinereien wie sie das Christentum aufzuweisen hat,sollte der Herr Sander sich besser zurückhalten mit seiner Meinung.Aber wir haben ja heute Redefreiheit.Im Gegensatz zu früheren Zeiten wo der "Hexenhammer" und die "Bibel" einzige erlaubte Lektüre waren.
"Tantum Religio potuit suadere Malorum." (Lukrez)
Kann man denn, Herr SANDER, eine (Rück)besinnung auf christliche Werte ohne die Rückbesinnung auf die Werte, die ab 1933 im unfehlbaren päpstlichen "Luxemburger Wort" vermittelt wurden, vornehmen? Zur Erinnerung, Herr SANDER: Ab 1933 wurde die Weltöffentlichkeit in dieser papsteigenen Zeitung zu einer "Koalition der Willigen" als gottgefälliges Projekt aufgefordert. GOTT WILL DAS, DEUS VULT! MfG, Robert Hottua, um Amnesiefreiheit bemühter Rückbesinner