Afghanistan-KriseSorge vor neuem Andrang auf der Balkanroute

Afghanistan-Krise / Sorge vor neuem Andrang auf der Balkanroute
Junger Flüchtling in Belgrad: Tatsächlich halten Fachleute in der Region eine Wiederholung der Flüchtlingskrise von 2015/16 für eher unwahrscheinlich Foto: AP/Darko Vojinovic

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Nach der Machtübernahme der afghanischen Taliban könnte auch Europa eine neue Flüchtlingskrise drohen. Eine Wiederholung des Szenarios von 2015 scheint zwar kaum zu erwarten. Doch in Südosteuropa wächst die Furcht der Anrainer vor neuem Andrang auf der sogenannten Balkanroute.

Die Schreckensbilder aus Afghanistan wirken fern, aber sind den Bewohnern der Balkanstaaten doch merkwürdig vertraut. Die Aufnahmen von in Panik und in Todesangst flüchtenden Menschen rufen in den ex-jugoslawischen Staaten nicht nur traumatische Erinnerungen an das blutige Kriegsjahrzehnt der 90er Jahre wach. Auch der Massenexodus der endlosen Kolonnen von syrischen Kriegsflüchtlingen über die sogenannte Balkanroute vor fünf Jahren ist den Anrainerstaaten in unguter Erinnerung geblieben.

Von einer „neuen Gefahr für den Balkan“ schreibt beunruhigt die Belgrader Tageszeitung Blic nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul: „Droht Serbien eine neue Migrationskrise?“ Im Ton gelassener, aber ähnlich besorgt blickt im benachbarten Bosnien und Herzegowina der Direktor der Ausländerbehörde Slobodan Ujic den kommenden Monaten entgegen: „Nach all dem, was wir in Afghanistan sehen, ist es natürlich, einen erhöhten Zustrom von Migranten zu erwarten.“

Hunderttausende waren auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015/2016 auf einem offenen Flüchtlingskorridor von Griechenland bis Österreich nach Mitteleuropa gelangt. Seit der offiziellen „Schließung“ der Balkanroute im März 2016 haben sich die Grenzhürden für die Transitflüchtlinge zwar vermehrt. Aber die Zahl der über die sich ständig ändernde Balkanroute nach Westen strebenden Asylsuchenden ist in den vergangenen fünf Jahren erstaunlich konstant geblieben.

Experten geben Entwarnung

Seit 2016 gelangten „kontinuierlich“ 30.000 bis 40.000 Flüchtlinge pro Jahr nach Serbien, berichtet Rados Djurovic, Direktor des Zentrums zum Schutz von Asylsuchenden in der Hauptstadt Belgrad. Allein in den ersten sieben Monaten dieses Jahres zogen auf ihrem Weg nach Westen geschätzte 27.000 Transitmigranten durch den Balkanstaat – rund 150 pro Tag. 38 Prozent von ihnen sind Afghanen: Ihre Zahl dürfte sich bald vermehren.

Laut Angaben von Hilfsorganisationen kommen bereits jetzt täglich 1.000 Flüchtlinge aus Afghanistan in der Türkei an: Vor allem Athen fürchtet nach der Machtübernahme der afghanischen Taliban einen wachsenden Migrationsdruck auf die griechisch-türkische Grenze. Sein Land werde „nicht das Einfallstor einer neuen Flüchtlingswelle“, kündigt der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis eine verstärkte Grenzsicherung an.

Zwar haben die treuen US-Verbündeten Albanien, Kosovo und Nordmazedonien auf Drängen Washingtons ihre Bereitschaft zu der zeitweiligen Aufnahme afghanischer Ortskräfte der US-Streitkräfte erklärt. Doch keiner der bitterarmen Anrainerstaaten könnte eine größere Zahl von Flüchtlingen dauerhaft beherbergen: Schon jetzt wirkt beispielsweise das dysfunktionale Bosnien und Herzegowina mit der Versorgung von einigen tausenden Transitflüchtlingen völlig überfordert.

Zumindest „ein Teil“ der Afghanistan-Flüchtlinge werde über die Balkanroute in die EU zu gelangen versuchen, ist die serbische Zeitung Danas überzeugt. „Der Exodus aus Afghanistan ist sicher und auf dem Balkan möglich, aber hängt von den Hürden ab“, titelt die Seite des TV-Kanals „N1“.

Tatsächlich halten Fachleute in der Region eine Wiederholung der Flüchtlingskrise von 2015/16 für eher unwahrscheinlich – sofern es nicht erneut zur Schaffung von Flüchtlingskorridoren kommt. Die in den letzten Jahren an der ungarisch-serbischen, bulgarisch-türkischen oder serbisch-mazedonischen Grenze errichteten Zäune haben Flüchtlingsbewegungen zwar nicht gestoppt, sondern vor allem verteuert, gleichzeitig aber auch etwas abgebremst.

Iran und Türkei zuerst betroffen

Am meisten seien zunächst der Iran und die Türkei von den Flüchtlingsfolgen der Umwälzungen in Afghanistan betroffen, so Djurovic: Diese würde für den Balkan und Serbien „erst in einigen Monaten zu spüren sein“. Ein stärkerer Anstieg der Flüchtlingszahlen werde nicht zuletzt davon abhängen, ob die Türkei „massenhaft“ Afghanen nach Westen weiter ziehen lasse oder – ähnlich wie bei den Syrern – eine Art Abkommen mit der EU schließen werde.

Als Problem für Serbien „als letzte Station auf dem Weg ins gelobte EU-Territorium“ könnte sich bei einem Ansteigen der Flüchtlingszahlen das vermehrte „Pushback“ und die gewaltsame Rückführung unerwünschter Grenzgänger durch die EU-Nachbarn Kroatien, Rumänien und Ungarn erweisen: „Für viele Flüchtlinge könnte der Weg in die EU in Serbien enden.“