Militärökonom über die russische Kriegsführung„So löst man sich von Energieabhängigkeit“

Militärökonom über die russische Kriegsführung / „So löst man sich von Energieabhängigkeit“
Russlands Präsident Wladimir Putin setzt Europa unter Druck Foto: AFP/Sputnik/Sergei Bobylov

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Der Militärökonom Dr. Marcus Matthias Keupp (ETH Zürich) sieht in Russlands Krieg „Ausmaße eines Genozids“. Friedensverhandlungen seien illusorisch, Europa müsse seine „Energieabhängigkeit“ von Putins Regime überwinden. Ein Interview.

Tageblatt: Welche Taktik verfolgt Russland aktuell im Ukraine-Krieg?

Dr. Marcus Matthias Keupp: Es ist der Versuch, die Zivilbevölkerung zu demoralisieren. Das hat es schon oft gegeben in der sowjetischen beziehungsweise russischen Geschichte. Diese ausgesprochene Brutalität ist typisch für die russische Kriegsführung. Das völlige Ignorieren des Völkerrechts zeigt sich am Zerstören von Infrastruktur in der Ukraine. Das hat die Ausmaße eines Genozids. Es geht nicht nur darum, die Energie lahmzulegen, sondern dem ukrainischen Volk seine Lebensgrundlage zu nehmen und es zu zerstören. Es ist ein Zivilisationsbruch, wie er seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr vorgekommen ist.

Wie erfolgreich ist diese Taktik?

Es ist unwahrscheinlich, dass es den gewünschten Effekt hat. Wenn Sie eine wirklich entschlossene Zivilbevölkerung haben, hilft so ein Vorgehen gar nicht. Das macht die Leute nur noch entschlossener. Diese Infrastruktur ist zudem wieder schnell zu reparieren. Die Russen machen das primitiv: Sie schießen ihre Raketen vor allem auf die Transformatorstationen. Die bekommt man relativ leicht wieder in Gang. Das sehen Sie jetzt schon. Es gibt außerdem Hilfslieferungen, um das Energienetzwerk zu stabilisieren.

Das völlige Ignorieren des Völkerrechts zeigt sich am Zerstören von Infrastruktur in der Ukraine. Das hat die Ausmaße eines Genozids.

Dr. Marcus Matthias Keupp, Militärökonom

Wie wehrhaft sind die Ukrainer noch?

Das ukrainische Volk kämpft in diesem Krieg um das eigene Überleben. Es geht nicht nur um den Bestand der Ukraine als Staat. Das Ausmaß an Kriegsverbrechen ist unvorstellbar. Und wir haben bisher nur die Spitze des Eisbergs gesehen. Nehmen sie zum Beispiel die Stadt Butscha. Was glauben Sie, was man noch finden wird, wenn man Mariupol zurückerobert. So etwas hat es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben. Wenn ihnen das als Volk klar wird, dann würde ich sagen: Lieber sterben, als unter russischer Besatzung zu leben.

Aktuell geht die Rede von möglichen Friedensverhandlungen. Ist das realistisch?

Das sind Illusionen von Emmanuel Macron und von Olaf Scholz, die man sich immer noch macht: dass der Krieg quasi ein Betriebsunfall wäre. Man habe sich bis jetzt die Köpfe eingeschlagen und dann könne man sich langsam zusammensetzen, um die alte Welt wieder zu reparieren. Das ist eine verhängnisvolle Fehleinschätzung. Die gibt es aber nicht überall in Europa. Wenn Sie zum Beispiel nach Polen, ins Baltikum oder nach Skandinavien schauen, da ist die Diskussion ganz anders. Aber Deutschland und Frankreich glauben, man könne noch zurück zur Ordnung von 2021: Das wird es aber nicht geben.

Inwiefern?

Die Vorbedingung, dass man überhaupt diese Gespräche führen könnte, wäre zunächst mal der vollständige Rückzug aller russischen Truppen aus der Ukraine. Dann ist da die Frage der Reparationen: Also wer bezahlt die ganzen Schäden? Wer entschädigt das Land für all die getöteten Zivilisten? Das sind bis jetzt etwa 800 Milliarden US-Dollar. Solange Russland die nicht zahlt, sehe ich auch keine Chance dafür. Aus russischer Sicht ist das ohnehin keine Frage: Für Putin existiert die Ukraine gar nicht als Staat, sondern als Teil des russischen Imperiums. Angebote, zu „verhandeln“, sind daher eine Falle.

Wie meinen Sie das?

Putin benötigt den Waffenstillstand beziehungsweise ein Abflauen der Kämpfe, um seine Rüstungsindustrie anzuwerfen. Außerdem können die russischen Soldaten dann ihre Stellungen befestigen und somit einen taktischen Ausgleich erlangen. Macron und Schulz gehen Putin also voll auf den Leim: Sie geben sich einer Illusion hin, einem ideologischen Irrglauben, dass man sich mit Russland ausgleichen müsse. Zum Glück haben wir die USA und Polen, die das durchschauen und dabei nicht mitmachen. Deutschland wird sich noch von sehr vielen Illusionen lösen müssen, was Russland angeht. Es wird einen neuen Kalten Krieg geben, es wird ein neuer Eiserner Vorhang heruntergehen in Europa.

Wie entwickelt sich die Energiekrise?

Heute sind die Energiepreise wieder auf dem Vorkriegsniveau. Gas und Öl sind heute wieder so teuer wie im Februar 2022. Sie sehen, was passiert, wenn man eine Energiekrise hat: Dann passieren technische Innovationen. Das war 1973 und 1979 nicht anders. Wenn Sie heute die großen Gasverbraucher anschauen, wie Evonik oder BASF, die verbrauchen mittlerweile 20 Prozent weniger als im Vorjahr – bei gleicher Produktivität. Sie haben also Möglichkeiten gefunden, ihre Gasnachfrage zu senken, ohne dass es ihrer Produktivität schadet. Das war der erste Effekt.

Und der zweite?

Der zweite Effekt ist, dass man alternative Anbieter gefunden hat: zum Beispiel Flüssiggas aus Katar, Australien oder den USA. Und dass jetzt natürlich überall in der Welt die Erdgasproduktion anspringt. Die Welt ist voll mit Erdgas: Erdgas ist kein knappes Gut auf diesem Planeten. Mosambik und Argentinien haben zum Beispiel große Erdgasreserven. Die haben aber noch nicht die Infrastruktur, weil das russische Erdgas unglaublich billig war. Es hat sich deshalb nicht gelohnt, diese Vorkommen zu entwickeln. Aber das wird jetzt passieren. Und wir werden bis 2025 eine Globalisierung des Erdgasmarktes erleben: Dann werden diese Volumina auch anspringen. Damit wird sich dann auch die Preissteigerung neutralisieren. Wir befinden uns also in einer Übergangsphase, die vorübergehen wird: Die alte Versorgung ist plötzlich entfallen und die neue ist noch nicht da. Das nennt man in der Ökonomie einen Angebotsschock. Es gibt aber noch einen Grund.

Der wäre?

Die Menschen haben allgemein gemerkt, dass Energieeffizienz das große Thema ist. In Europa sind viele Firmen am Forschen, wie man Energie effizienter nutzen kann. Und vor allem wie man aufhören muss, Energie zu verschwenden. Wir haben uns daran gewöhnt, „Energie ist immer da, Strom kommt aus der Steckdose“ – aber niemand hat sich eigentlich richtig dafür interessiert, wo er herkommt. Das ändert sich jetzt. Das ist etwas Gutes: So löst man sich von dieser Energieabhängigkeit.

Zur Person

Dr. Marcus Matthias Keupp ist seit 2013 Dozent für Militärökonomie an der Militärakademie der ETH Zürich. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u.a. Versorgungssicherheit und der Schutz kritischer Infrastruktur. In seinem Buch „Militärökonomie“ erörtert Keupp „die ökonomischen Probleme militärischer Organisationen aus institutioneller Perspektive“. In „Die Illusion der Abschottung“ (2021) kommt Keupp mit Blick auf die Pandemie zu einer bitteren Erkenntnis: „Eine Rückkehr ins zwanzigste Jahrhundert ist nicht undenkbar. Die Welt hat erfahren, was es bedeutet, wenn international arbeitsteilige Wertschöpfungsketten zerbrechen, Grenzübergänge plötzlich geschlossen werden, die Exekutive durchregiert.“ Keupp wurde in Deutschland geboren und wanderte 2004 in die Schweiz aus.

Phil
11. Dezember 2022 - 11.09

"Die Illusion der Abschottung“... das schreibt ausgerechnet ein in der neutralen Schweiz lebender Deutscher! Nur zur geschichtlichen Auffrischung... Als die europäischen Auswanderer den amerikanischen Kontinent besiedelten, sprich säuberten, begangen sie dabei Völkermord an den Ureinwohner, die Indianer wurden regelrecht abgeschlachtet. Die Kolonialisten auf ihrer Besiedlung Richtung Westen bekriegten, mit Einvernehmen der damaligen US-Regierung, die Indianer in jeder Form. Sie töteten nicht nur Männer welche sich verteidigten, sondern auch Frauen und Kinder, verbreiteten Krankheiten, betrieben Umsiedlungen… es gab keine moralischen Bedenken. Die Auswirkungen waren fatal, jedoch für den damaligen US-Präsidenten Ulysses S. Grant nicht effizient genug. Er wandte sich an den Generalkommandeur der US-Army Phillip H. Sheridan und verlangte ein für alle Mal, ein baldiges Ende des „Indianerproblems“. Dieser wiederum holte sich William T. Sherman zu Hilfe, ein für seine Kriegsstrategie im Sezessionskrieg dekorierter General. Dieser stellte fest, dass die Indianer ihre Dörfer in Nähe von weidenden Bisonherden hatten, welche ihnen alles zum Leben lieferten. Ergo, um die Indianer auszumerzen, muss man ihnen die Lebensgrundlage entnehmen. Sherman heuerte den Eisenbahner William Cody an, besser bekannt unter dem Namen Buffalo Bill. Dieser lud reiche und einflussreiche Geschäftsleute von der Ostküste und Europa ein, mit dem Ziel so viele Bisons wie möglich zu erledigen. Aus fahrenden Zügen knallten die Schiesswütigen Tausende (!) von Tieren am Tag ab welche in der Prairie verbluteten. Cody brüstete sich, dass er allein, in nur 18 Monaten rund 4.300 Bisons erlegt hätte. Und nicht nur Bisons wurden bei dieser Treibjagd abgeknallt. Ihrer Lebensgrundlage beraubt, war es nur noch eine Frage der Zeit, ehe die geschwächten Indianer ihren Lebensraum aufgaben und sich in Reservaten einpferchen ließen. Als „krönender“ Abschluss dieses zeithistorischen Dramas organisierte Buffalo Bill Cody um 1890 eine „Wild West Show“ mit der er durch Europa tourte um dem schaulustigen Pöbel aus London, Paris, Madrid, Bologna, Berlin seine Schiesskünste und Erlebnisse hautnah zu demonstrieren. Selbstverständlich mit der Beteiligung von Native Americans, zu der Zeit als „Rothäute“ tituliert. In Deutschland war Cody’s Western Exhibition Show so erfolgreich, dass sich Nachahmer in Form von Zirkus Hagenbeck und Sarrasani daran inspirierten und das Ganze als „Völkerschaustellungen“ präsentierten.

DanV
9. Dezember 2022 - 15.13

@ JJ Ich gebe Ihnen recht in Allem recht ausser in einem: Es war nicht dumm, Geschäfte mit Putin zu machen, es war ein Versuch, Russland in die Weltgemeinschaft einzubinden. Und es hat ja auch 30 Jahre einigermaßen funktioniert, wenn man von den politischen Morden und den diversen Kriegen in seinem Machtbereich absieht. Das klingt jetzt kaltschnäuzig, aber die USA haben auch ungerechtgertigte Kriege angezettelt. Wir sind das also "gewöhnt". Heute haben wir andere Zeiten. Aber wieder wird der gleiche Fehler gemacht, diesmal mit Erdogan. Der Diktator lässt kurdische Gebiete im Nordirak bombardieren, und keiner traut sich, es ihm zu verbieten. Wieder sterben Unschuldige ... Und er erpresst Schweden, willkürlich zu türkischen Staatsfeinden deklarierte schwedische Bürger auszuliefern. Irgendwann wird uns dieses "nicht hingucken" gewaltig auf die Füße fallen, genau so wie mit Putin. Ich hoffe, dass wir unsere Lektion aus diesem Paukenschlag ziehen: Wir brauchen ein starkes Europa, das die Diplomatie zwar vorzieht, sich jedoch nicht fürchtet, militärische Gewalt anzuwenden, um Möchtegern-Weltmachten, egal ob sie vom Mittelmeer, vom baltischen Merr oder vom Atlantik kommen, in ihre Schranken zu weisen. Wir müssen in der Nato ein gleichwertiger Partner der USA werden, um europäische Scharmützel (Donbass, Transnistrien, Berg-Karabach, …) von vornherein im Keim zu ersticken, damit sie nicht in Kriegen ausarten. Als Pazifist ist es mir ein Gräuel, das zu schreiben, aber Putin hat uns gezeigt, dass wir keine Wahl haben.

JJ
8. Dezember 2022 - 15.20

" Friedensverhandlungen seien illusorisch, Europa müsse seine „Energieabhängigkeit“ von Putins Regime überwinden. " Bravo. Das wissen die meisten Menschen,ausser Schroeder und Merkel vielleicht. Mit diesem Regime Geschäfte zu machen war nicht nur blauäugig sondern dumm. Putin hat gezeigt wer er wirklich ist. Was er nicht kaufen kann nimmt er sich einfach. Ein Vertrag ist für den Mann ein Stück Papier,mehr nicht.