Damit niemand etwas versäumt, „ticken“ auch überall die Uhren. Digitale Zählwerke teilen uns mit, wie viele Stunden, Minuten und Sekunden noch auszuharren sind, bis das nächste Sales-Event ansteht. Unentwegt scheint es diese letzten Momente zu geben, nach denen dann (zunächst) nichts mehr geht. Selbst dieser Endpunkt hat, weil das Verhalten sich so sehr an einem Datum zu orientieren scheint, seinen festen Platz.
Der Konsument geht auf die Jagd und nimmt sich am „Buy Nothing Day“ eine Auszeit. Er reinigt seine Seele von den falschen Bedürfnissen, um mit neuem Bewusstsein einen weiteren Anlauf zu nehmen. So könnte man das Ritual des jährlichen Konsumkalenders beschreiben. Stets wird mit der Zukunft gerechnet und die Gegenwart zur Vergangenheit erklärt. Stets ist da noch etwas, das ich berücksichtigen, einkalkulieren, bewerten, zurückstellen oder vorziehen kann. Es ist nun fast 75 Jahre her, dass der kanadisch-US-amerikanische Ökonom John Kenneth Galbraith in seinem erfolgreichsten Buch „Gesellschaft im Überfluss“ (The Affluent Society) das Prinzip eines nachfrageabhängigen Wohlstands beschrieb und auf die ökologischen Folgen dieses Kreislaufs hinwies.
Idee des Kreislaufs
Die Idee des Kreislaufs hat nun immerhin seit geraumer Zeit Wiederverwertungspfade in ganz unterschiedlichen Wertschöpfungsbereichen zutage befördert und schickt sich zunehmend an, eine andere und nachhaltige Form des Wirtschaftens und Konsumierens vorzuleben und zu fordern. In „Die Versteigerung von No. 49“ erzählt der US-amerikanische Autor Thomas Pynchon unter anderem von den Selbstzweifeln eines Gebrauchtwagenhändlers, der sich – tagaus, tagein – mit einer zermürbenden Form des Tauschs befassen muss: Eine Schrottkarre geht, eine Schrottkarre kommt. Aber selbst in dieser Konsumwelt, die aus dem nahezu „Nichts“ noch etwas macht, das die eigenen Verhältnisse erträglich, weil abwechselnd gestaltet, lässt sich die Faszination für die kleinen Unterschiede ablesen. Der Kotflügel, der rostete, war vorher blau, jetzt ist er eben rot.
Ich erinnere mich an eine Konferenz in Dresden, die sich im Jahr 1994 mit dem Phänomen der Langlebigkeit befasst hat. Ein Ingenieur aus der Schweiz lobte sein Auto aus dem Jahr 1968, das nach wie vor fahrtauglich sei, Car-Sharing war auch bereits ein Thema. Aber auch damals hatte man den Eindruck, dass Standardlösungen nur in Verbindung mit Vielfalt auf Interesse stoßen. Der Satz „Not macht erfinderisch“ kommt aus einer Zeit der Knappheit. Nun wird die Not anders definiert, als Suche nach neuen Wegen aus einer Engpassstrategie. Nonkonformismus ist hier auch, aber nicht ausschließlich am Werk. Aber er sorgt dort, wo er offensiv und mit politischer Botschaft gepaart auftritt, für ebenso erstaunliche Reaktionen.
„Es geht auch anders“
„Think different“ war nicht der Slogan einer Generation, die der Wohlstandsgesellschaft den Spiegel vorhielt und ein „Weiter so“ infrage stellte. „Different“ meinte erst einmal: „Es geht auch anders.“ Appelliert wurde an den Möglichkeitssinn, an das Kreative im Menschen, an sein Bedürfnis, jenseits des Stroms dennoch Wellen zu schlagen. Die Gefühlslage baute sich an dem jeweiligen Gegenüber auf: Rebell vs. Spießer, Asket vs. Verschwender, Zeitarme vs. Zeitreiche. Die Leitidee der Nachhaltigkeit sollte eben nicht zu einem Standardprogramm werden.
Verzicht bedeutete früher „Nicht-Konsum“, heute leben von modernen Formen des Verzichts neue Dienstleistungsbereiche. Je wohlhabender Gesellschaften sind, desto häufiger loben sie auch das einfache Leben. Sie geben ihm zugleich eine Rahmung, die aus der Kartoffelsuppe eine Delikatesse macht und die Askese als Teilzeit-Vergnügen definiert. Der Homo Oeconomicus will dauernd gewinnen, selbst verzichten soll etwas bringen. Auch aus diesem Grund mögen die Autoren des Buchs „Konsumrebellen“ die Frage formuliert haben: „Wie können wir allesamt das Konsumdenken ablehnen und trotzdem in einer Konsumgesellschaft leben?“
Moralische Übersättigung
Die Frage hat grundsätzlichen und rhetorischen Wert. Denn am Ende kann sich die Abwehr von Geschäftsmodellen als sehr anstrengend erweisen. Sie lassen sich eher als Programme mit unterschiedlichen Wertbindungen beschreiben. Kluge Anpassungen werden dann als Ausdruck von Fitness interpretiert. Diese wird begleitet von einer wachsenden Industrie, die Selbstkontrolle mit Produkten und Dienstleistungen unterstützt. Wertbindungen können sich ebenso auf die Herkunft der Produkte, auf den Einklang mit bestimmten Ernährungsphilosophien, auf politisch korrekte Produktions- und Lieferketten beziehen. Das hat seit geraumer Zeit zu einer moralischen Übersättigung der Märkte geführt.
Die Vielfalt findet nun auf der Ebene von Zertifizierungen statt, der Markt spielt sein Prinzip in das Feld des Verzichts ein, indem er diese Philosophie mit Differenzierungsprogrammen anreichert und selektive Enthaltsamkeit als Unterscheidungsmerkmal für neue Stilbildungen bewirbt. „Shopping for a better world“ öffnet ein großes Tor, hinter dem sich Selbstverwirklichung auf breiter Front erneut entfalten kann. Der Verzicht füttert einen eigenen Markt. Zur Stilbildung gehört Ausdruck. Und Ausdruck wird mit dem äußeren Erscheinungsbild in Verbindung gebracht. Die Mode lebt von der Abwechslung und hat durch den raschen Wechsel der Angebote die Kritik an dieser Fast Fashion-Welt provoziert. Ständig wird vorgerechnet, wie viele Wassermengen für die Produktion eines T-Shirts oder einer Jeans benötigt werden. Und dann verlassen diese Kleidungsstücke unter Umständen niemals oder selten den eigenen Kleiderschrank.
Man mache den Selbstversuch und prüfe, welche Kleidungsstücke wie oft getragen werden. Umweltorganisationen möchten es regelmäßig von den Verbrauchern wissen. Im Jahr 2022 wurden fast 17 Prozent der Hosen, Hemden, Blusen etc. fast nie getragen, weitere 20 Prozent hin und wieder. Der Lieblingspullover ist auch schon lange nicht mehr der eines älteren Geschwisters. Teilen findet eher selten statt, Haben ist Teil des Seins. Und im Haben baut sich eine Präferenzordnung auf, die sich aus einem Mengeneffekt ergibt, der aus durchschnittlich fast 100 Kleidungsstücken pro Person resultiert (erwachsene Bevölkerung ab 18 Jahren). Dies wiederum speist Second-Hand-Märkte, die vermehrt auch in First Hand-Umwelten integriert werden oder als selbstorganisierte Kleiderbasare eine angenehme Atmosphäre vermitteln.
Auch den Aktionstag („Green Sunday“) hat man in diesem Segment entdeckt und erneut sind die Meinungen hierzu gespalten. Auf Partys werden zuweilen auch Kleidungsstücke getauscht. Viele Gebrauchsgüter werden von dieser Entwicklung mittlerweile erfasst, aber man bleibt im Kreise konkurrierender Philosophien. So findet etwa der Leitgedanke „Aus Alt mach Neu“ im Upcycling Anwendung. Ausgediente Produkte werden, anders als beim Recycling, für andere Zwecke verwendet. Eine Palette dient fortan als Gartenschmuck, aus Einweggläsern werden kreative Beleuchtungsideen entwickelt. Henry David Thoreaus Gedanke „Der Mensch ist reich in Proportion zu den Dingen, die sein zu lassen er sich leisten kann“ müsste also eher lauten: „Der Mensch erfreut sich an den Dingen, die anders auch einen Sinn ergeben.“
„Werkinstinkt“ wiederbeleben
Das mag auch auf das Reparieren übertragbar sein. Im Jahr 2018 erschien das Buch „Kulturen des Reparierens und die Lebensdauer der Dinge“, wählte also bereits den Plural zur Veranschaulichung der Vielfalt. Denn es geht dabei um Selbstermächtigung, um die Wiederbelebung eines „Werkinstinkts“, um die Sensibilisierung für Fehlentwicklungen in der Produktion. Psychologisch wirkt das Reparieren wie eine Produktrettung, auch wenn es aus energetischen Gründen oder Sicherheitsaspekten nicht immer Sinn macht. Die einen haben Spaß an der Sache, die anderen benötigen die Hilfe, erfreuen sich aber auch an dem Do-it-together (soweit möglich) in einer Lernwerkstatt. In Repair-Cafés vereinen sich Konsumskeptiker mit unterschiedlichen Ansprüchen.
Es geht zunächst einmal um Erfahrung aus zweiter Hand in einem positiven Sinne: Ich schaue hinter die Kulisse meines Bügeleisens oder Computers. Manche wollen ein Zeichen gegen die Verbrauchsregeln der Konsumgesellschaft setzen oder erfreuen sich an dem Sachunterricht in entspannter Atmosphäre, wollen einfach nur kreativ sein, brauchen aus ökonomischen Gründen die Hilfe, ein Erinnerungsstück soll bewahrt werden, manchmal fehlt schlicht das passende Werkzeug. Das Reparieren stiftet offenbar Solidarität. Und es werden immer mehr Begegnungsräume: Nicht nur die „Black Week“-Uhr hofft auf Rekorde, auch das Zählwerk für nationale und internationale Initiativen in diesem Sektor. Gerne wird in diesem Zusammenhang auch an die „Do-it-Yourself“-Bewegung und die Ursprünge in den 1960er-Jahren erinnert.
Aus dem Konsument wurde der Prosument, der sich nicht auf den Verbrauch von etwas reduziert sehen wollte. Ich schraube, also bin ich. In allem mag ein Beleg für die Tendenz zur selektiven Bescheidenheit gesehen werden. Nicht immer wird auf das Neue gesetzt, aber die Wettbewerbskomponente bleibt. Der „Buy Nothing Day“ zielt auf Besinnung zu Beginn der heißen Phase des Weihnachtsgeschäfts. Die Wiederholung und Institutionalisierung ergibt sich auch hier aus der Konkurrenz, die an der Rabattschraube dreht. Offenbar neigen wir weiterhin dazu, den kleinen Verzicht höher zu bewerten als den radikalen Einschnitt. In kollektiv erwünschten (temporären) Verzichtansinnen bleiben die Unterschiede erhalten, die sich im Umgang mit Entsagungen anbieten. Bescheidenheit soll ohne nachhaltigen Verzicht, Konsum ohne schlechtes Gewissen möglich sein. Denn schon Herbert Grönemeyer sang: „Oh ich kauf’ mir was. Kaufen macht so viel Spaß …“

De Maart
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