Sonntag19. Oktober 2025

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SerbienSechs Minderheitsabgeordnete sind im faktischen Einparteienstaat die parlamentarische Opposition

Serbien / Sechs Minderheitsabgeordnete sind im faktischen Einparteienstaat die parlamentarische Opposition
Serbiens unfreiwilliger Oppositionsführer: der albanische Minderheitenabgeordnete Shaip Kamberi vor dem Parlament in Belgrad Foto: Thomas Roser

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Für die einen ist er ein Nestbeschmutzer, für die anderen eine demokratische Stimme in der autoritären Finsternis: Eher unfreiwillig, aber konsequent mimt der albanische Minderheitenpolitiker Shaip Kamberi in Serbiens faktischen Einparteienstaat die Rolle des parlamentarischen Oppositionsführers.

Nachdenklich blickt Shaip Kamberi aus dem Fenster des Eis-Cafés in der Belgrader Kosovo-Straße auf das wuchtige Gemäuer seines Arbeitsplatzes. Die ohnehin geringen Erwartungen des Anwalts an sein zweites Gastspiel in Serbiens Parlament haben die ersten zwei Monate der Legislaturperiode noch untertroffen: „Ich bin nicht naiv und wusste, was mich erwartet. Aber manchmal ist es schwer, das alles auszuhalten.“

Das Niveau und das Vokabular der Debattenbeiträge in der „Skupstina“ seien noch trister als während seines ersten Mandats vor sechs Jahren, seufzt der drahtige Minderheitsabgeordnete aus der südserbischen Kommune Bujanovac. „Ständig hören wir grobe Anschuldigungen und unflätige Hassreden gegen andersdenkende Künstler, unabhängige Journalisten und gegen Oppositionspolitiker, die nicht einmal im Parlament sitzen.“

Eher unfreiwillig fällt der von Kamberi geführten Fraktion von sechs Abgeordneten der albanischen und bosniakischen Minderheit die Rolle der Opposition in dem 250 Sitze zählenden Parlament zu. Von einem „traurigen Tag für die Demokratie“ sprach der 56-Jährige nach der Vereidigung der neuen „Regierung der nationalen Einheit“ Ende Oktober. Ein derartiges Parlament hätte nicht einmal Serbiens früherer Autokrat Slobodan Milosevic produzieren können: Der allgewaltige Staatschef Aleksandar Vucic (SNS) und sein nun auf den Posten des Parlamentsvorsitzenden gerutschter Koalitionspartner Ivica Dacic (SPS) hätten sich „als noch effektiver als ihre politischen Väter erwiesen“.

Für die einen ist er ein albanischer Nestbeschmutzer, für die anderen eine demokratische Stimme in Serbiens autoritärer Finsternis: Eher wider Willen, aber konsequent spielt Kamberi im faktischen Einparteienstaat die Rolle des parlamentarischen Oppositionsführers. Die Demokratie beim EU-Beitrittskandidat entwickle sich zurück, „eine parlamentarische Kontrolle der Regierung gibt es nicht mehr“, konstatiert er nüchtern. Die wichtigsten Oppositionsparteien seien bei der Parlamentswahl im Juni nicht angetreten, die anderen an der Wahlhürde gescheitert: „Wir sind eine kleine Minderheitenfraktion, die nicht die Macht hat, die Rolle einer Opposition zu spielen, wie sie eigentlich beschaffen sein müsste. Aber wir haben es uns zum Ziel gesetzt, den Anliegen unserer Wähler und von allen demokratisch gesinnten Bürgern in Serbien zumindest Gehör zu verschaffen. Auch wenn das mit unseren beschränkten Mitteln nicht leicht ist.“

„Unerwünschte Elemente und Sündenböcke“

Mit der Diaspora im Ausland zähle Serbiens albanische Minderheit im sogenannten Presevo-Tal rund 80.000-90.000 Menschen, „die auf allen Ebenen diskriminiert werden“, klagt der bisherige Bürgermeister von Bujanovac. Ob bei der Polizei, der Justiz, den Finanz-, Kataster- oder Zollämtern – in keiner dieser Staatsinstitutionen seien Albaner angemessen vertreten: „Dabei muss laut Verfassung in multiethnischen Kommunen die Struktur der Beschäftigten in den Institutionen der der Bevölkerung entsprechen.“

Im Gegensatz zur ungarischen Minderheit, die auch von der „engen persönlichen Freundschaft“ zwischen Vucic und Viktor Orban profitiere, würden Albaner wegen des Streits um Kosovo in Serbien als „unerwünschte Elemente, Terroristen und Sündenböcke vom Dienst“ gelten. Die von der Regierung kontrollierte Boulevardpresse schüre mit „Negativ-Propaganda“ zudem gezielt die latente „Albanerphobie“ im Land: „Wenn wir fordern, dass die Albaner Zugang zur Polizei erhalten sollen, heißt es sofort, dass wir das Presevo-Tal albanisieren wollten.“

Doch vor allem seine generelle Kritik an den demokratischen Defiziten Serbiens hat dem Minderheitenpolitiker quer über alle ethnischen Grenzen ungekannt großen Zuspruch beschert. Er erhalte aus allen Regionen des Landes Zuschriften, dass es gut sei, „dass es im Parlament eine Stimme der Vernunft gibt“, berichtet der Mann mit dem kurzgeschnittenen Haar: Nicht nur Albaner, sondern auch viele Serben seien über die Lage und die autoritären Tendenzen im Land „nicht zufrieden“.

Nähern sich Verhältnissen in Weißrussland an

Zwar mimt Kamberi zwangsläufig den Statthalter für die außerparlamentarische Opposition. Er spart dennoch nicht mit Kritik an ihr. Die sich in Grabenkämpfen verlierende Opposition sei zersplittert und habe bis auf die Gegnerschaft zu Vucic „keinerlei programmatische Gemeinsamkeiten“. Es fehle ein Mann wie der 2003 ermordete Reformpremier Zoran Djindjic, der das „Potenzial der Demokratisierung“ sammeln und kanalisieren konnte: „Serbien bräuchte eine neue Opposition – mit klarem Ziel und Programm.“

Den Drahtseilakt des Präsidenten zwischen Ost und West kritisiert Kamberi als „schlechte Kopie“ der Außenpolitik von Jugoslawiens früheren Staatenlenker Josip Broz Tito. Dass die EU erstmals seit 2015 in diesem Jahr kein neues Verhandlungskapitel eröffnet hat, bezeichnet er als „Warnung“. Statt der EU nähere sich Serbien zunehmend den Verhältnissen in Weißrussland an, wo „auch alle Entscheidungen von einem Mann getroffen werden“. Regierungschefin Ana Brnabic sei eine „Marionette“, die weder etwas zu sagen noch zu melden habe und ihre Funktion „nur formal“ ausübe: „Alle Entscheidungen werden im Präsidentenpalast und von Vucic gefällt“, so Kamberi.