Mittwoch29. Oktober 2025

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GroßbritannienSchwerste Sexualverbrechen blieben jahrelang ungeahndet: Labour-Regierung gelobt energische Aufklärung

Großbritannien / Schwerste Sexualverbrechen blieben jahrelang ungeahndet: Labour-Regierung gelobt energische Aufklärung
Die britische Innenministerin Yvette Cooper gibt im Unterhaus eine Erklärung zu den Missbrauchsfällen junger Frauen ab Foto: UK Parliament/AFP

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Eine „uneingeschränkte Entschuldigung“ für einen „Schmutzfleck auf unserer Gesellschaft“ – Innenministerin Yvette Cooper ließ es zu Wochenbeginn im Unterhaus an dramatischen Worten nicht fehlen, um einen seit Jahrzehnten unzureichend aufgearbeiteten Skandal Großbritanniens zu beschreiben: Systematisch begingen Zuhälter-Banden schwerste Sexualverbrechen gegen Mädchen und junge Frauen.

Fast immer waren die Täter asiatisch-stämmige Männer, die Hunderte von Opfern stammten fast ausschließlich aus dem weißen Prekariat. Ihre Verbrechen wurden jahrelang von Polizei, Sozial- und Kommunalbehörden unter den Tisch gekehrt, weil diese, wie Cooper sagt, „Angst hatten vor Rassismus-Vorwürfen und ethnischen Unruhen“.

Am Dienstag stand die Autorin eines neuen Arbeitspapiers dem Innenausschuss des Unterhauses Rede und Antwort. Louise Casey hatte den Prüfauftrag von Premierminister Keir Starmer zu Jahresbeginn nur ungern angenommen. Wie der Labour-Regierungschef war auch die erfahrene Sozialarbeiterin und frühere Opfer-Beauftragte eigentlich der Meinung, der Skandal sei in seinen Verästelungen bereits genug untersucht worden. Im Lauf ihrer Arbeit aber habe sie „meine Meinung geändert“, teilte die 60-jährige Oberhaus-Baronin mit.

Noch immer gebe es einen „furchtbaren Mangel“ an Daten über die Nationalität und den ethnischen Hintergrund von Tätern und Opfern, vielerorts gepaart mit der Angst vor einem Reputationsschaden und vor „kultureller Unsensibilität“. Casey machte „Gutmenschen“ dafür verantwortlich, die vorhandenen Erkenntnisse vertuscht zu haben. „Sie wollten Rassisten keine Munition an die Hand geben. Bewirkt haben sie das Gegenteil.“

Die nun geplante landesweite Kommission darf nach Caseys Vorstellungen auf keinen Fall länger als drei Jahre arbeiten. Ihre Hauptfunktion soll darin bestehen, die nord- und mittelenglischen Kommunen bei deren längst laufende Untersuchungen zu unterstützen. Unter anderem könnte dies dadurch geschehen, dass nur ein vom Unterhaus eingesetzter gesetzlicher Ausschuss Zeugen zur Aussage zwingen oder für deren Verweigerung bestrafen kann. Insgesamt werden 800 Ermittlungsverfahren erneut unter die Lupe genommen.

Krawalle angedroht

Dabei geht es nicht nur um die mittlerweile zahlreichen Verurteilungen von Mitgliedern der sogenannten Grooming Gangs. Aufgearbeitet werden auch solche Fälle, die von der Polizei beiseitegelegt wurden. Häufig geschah dies nicht etwa aus nachvollziehbaren Gründen, beispielsweise weil sich die unter Alkohol und Drogen gesetzten Opfer nur noch schemenhaft an die Verbrechen erinnerten. Allzu oft galten die jungen Frauen den Ermittlern als willige Billighuren, anstatt Coopers Maxime zu folgen: „Kinder sollten wie Kinder behandelt werden.“ Im britischen Recht werden Menschen bis zum 18. Geburtstag als Kinder bezeichnet.

Die Tatorte lagen vor allem in verarmten früheren Industriestädten Nordenglands wie Oldham und Rochdale im Großraum Manchester oder Rotherham in Yorkshire. Dort leben seit den 1960er Jahren große Gruppen von Einwanderern vor allem aus Indien und Pakistan, meist in friedlicher Distanz zur einheimischen Bevölkerung. Beinahe überall regierte die alte Arbeiterpartei Labour die Kommunen unangefochten. So entstand vielerorts eine „ungesunde Atmosphäre von Einschüchterung, Sexismus und Unterdrückung unangenehmer Fakten“, wie sie Baronin Casey bei einer früheren Untersuchung der 240.000-Einwohner-Stadt Rotherham attestierte. In einem Fall sei einem leitenden Polizeibeamten von zwei Stadträten mit Krawallen gedroht worden für den Fall, dass die Kripo wie geplant asiatischen Taxifahrern auf den Zahn fühlen würde.

Vor Ort wurde die neue Entwicklung vorsichtig begrüßt. Der unabhängige Oldhamer Ratsherr Marc Hince sprach schon im Januar gegenüber dieser Zeitung von einer „guten Balance aus lokaler Untersuchung und landesweitem Gerüst“.

Starmer zögerte

Der bereits um die Jahrhundertwende erstmals bemerkte Skandal hatte zu Jahresbeginn durch den US-Milliardär Elon Musk neue Aufmerksamkeit erfahren. Dessen Tweets – unter anderem bezeichnete der Unternehmer den Premier als „Komplize bei der Vergewaltigung Großbritanniens“ – hatten zwar mit der Realität nichts zu tun, legten aber die Versäumnisse der Regierungen beiderlei Couleur offen.

Damals zögerte Starmer mit der Einsetzung einer neuerlichen unabhängigen Untersuchung, verwies vielmehr auf mehrere Berichte, deren Empfehlungen durch seine konservativen Vorgängerregierungen weitgehend ignoriert worden waren. Gewiss seien „viele Jahre lang viel zu viele Opfer im Stich gelassen“ worden, räumte der Premier zwar ein, fügte aber hinzu: „Wer Lügen und Fehlinformationen verbreitet, hat nicht das Interesse der Opfer im Blick.“

Die entstandene Verzögerung von weiteren fünf Monaten wiederum hält nun Oppositionsführerin Kemi Badenoch dem Regierungschef vor. Starmer habe sich einer „schlimmen Pflichtvergessenheit“ schuldig gemacht und Führungsstärke total vermissen lassen, argumentierte die konservative Politikerin, die unter massivem Druck der Rechtsaußen-Partei Reform UK des Populisten Nigel Farage steht. In jüngsten Umfragen verbuchen die Torys gerade noch 17 Prozent, weit hinter Reform (27) und Labour (24).