Tageblatt: Herr Schirdewan, Frieden ist mit dem Ukraine-Krieg wieder ein großes Thema in Europa. Warum hat die Friedensbewegung gleichwohl so wenig Zulauf?
Martin Schirdewan: Wir werden in diesem Jahr an Ostern erleben, dass das Eintreten für Frieden und gegen Krieg und Aufrüstung wieder mehr Menschen bei den Ostermärschen mobilisiert. Der fürchterliche Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine macht den Menschen Sorge. Russland hat angekündigt, Atomwaffen in Belarus an der Grenze zu Polen zu stationieren. Das schürt Ängste vor einer atomaren Eskalation.
Was ist die Botschaft in diesem Jahr?
Die Botschaft lautet: Dieser Krieg muss beendet werden. Wir brauchen einen gerechten Frieden in der Ukraine. Den Weg dorthin gibt es nur über Verhandlungen und nicht über weitere militärische Eskalation. Langfristigen Frieden und Sicherheit wird es nur über internationale Verträge und Abrüstung geben. Traditionell sind die Ostermärsche sehr stark auf atomare Abrüstung ausgerichtet. Der Protest wird sich also auch gegen die neue Runde atomarer Aufrüstung mitten in Europa richten.
Russland hat angekündigt, Atomwaffen in Belarus an der Grenze zu Polen zu stationieren. Das schürt Ängste vor einer atomaren Eskalation.
Sie fordern eine diplomatische Lösung im Ukraine-Krieg. Auf welcher Basis? Wer soll vermitteln?
Es gibt keine Alternative zu Verhandlungen. Die Strategie der Bundesregierung, einseitig auf Waffenlieferungen zu setzen, ist hochgefährlich. Dadurch steigt die Gefahr, dass Deutschland in diesen Krieg hineingezogen werden könnte. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron war ja auch deshalb diese Woche in China, um mit Präsident Xi Jinping darüber zu sprechen, wie Russland an einen Verhandlungstisch gebracht werden könnte, um diesen Krieg zu beenden. Die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates müssten jetzt um eine Kontaktgruppe von Staaten wie Brasilien oder Indien erweitert werden, die Einfluss auf beide Kriegsparteien, vor allem aber auf Russland nehmen können. Dieser Krieg darf sich keinesfalls zu einem internationalen großen Konflikt entwickeln.
Bedeutet das, dass Russland alle seine Truppen aus der Ukraine abziehen muss, bevor verhandelt wird?
Ich denke nicht, dass es sinnvoll ist, Vorbedingungen für den Beginn von Verhandlungen zu formulieren. Entscheidend ist, was am Ende der Verhandlungen steht. Die Ukraine als souveräner Staat muss in diesen Verhandlungen mit der größtmöglichen Freiheit agieren.
Sie fordern den Stopp aller Waffenlieferungen an die Ukraine. Nehmen Sie damit in Kauf, dass die Ukraine aufhört, zu existieren, weil sie ihr Land nicht verteidigen kann?
Die Ukraine hat als souveräner Staat das Recht auf Selbstverteidigung. Meine Partei lehnt Waffenlieferungen dennoch ab, weil das Eskalationspotenzial dadurch nur weiter zunimmt. Es ist naiv, wie die Bundesregierung darauf zu hoffen, mit Waffenlieferungen die militärischen Kräfteverhältnisse so zu verändern, dass die Kriegsparteien aufhören, zu kämpfen. Wir brauchen andere Handlungsoptionen hin zu einem Frieden.
Ist die Linke weiter für einen Austritt Deutschlands aus der NATO?
Es gibt die Idee, ein System kollektiver Sicherheit in Europa unter Einbeziehung Russlands zu organisieren. Dieser Idee hat Wladimir Putin gerade eine Absage erteilt. Die Zukunft kollektiver Sicherheit liegt dennoch nicht in militärischen Bündnissen, sondern in friedlicher Zusammenarbeit, der Anerkennung des Völkerrechts, in der Stärkung internationaler Organisationen …
… all dies tritt Wladimir Putin gerade mit Füßen …
Trotzdem wird Russland auch nach diesem Krieg immer noch in Europa liegen. Die Militarisierung der Außenpolitik ist jedenfalls kein Weg zu einem dauerhaften Frieden.
Die Linke versteht sich als die Friedenspartei im Deutschen Bundestag. Sind die Grünen keine Friedenspartei mehr?
Die Grünen erkenne ich nicht mehr als Friedenspartei. Da muss man nur Außenministerin Annalena Baerbock und vielen anderen Grünen zuhören.
Die Grünen erkenne ich nicht mehr als Friedenspartei
Sie müssten aktuell mit diesem Alleinstellungsmerkmal eigentlich Zuspruch haben. Warum geht es bei Ihnen abwärts und nicht aufwärts?
Wir sind in den Umfragen seit längerem auf einem Niveau stabil, auf dem ich uns perspektivisch nicht sehe. Die gesellschaftliche Debatte um Krieg und Frieden ist gerade sehr aufgeheizt, auch in meiner Partei. Einig sind wir uns, dass dieser Krieg beendet werden muss.
Kämpft die Linke gerade um ihr politisches Überleben?
Wir sind nach einer Reihe von Wahlniederlagen im Bund und in den Ländern in einer sehr schwierigen Phase. Wir haben zu oft politische Unterschiede öffentlich diskutiert statt intern. Das will ich ändern. Wir schaffen in nächster Zeit Raum für Debatten in der Linken – durch Regionalkonferenzen, durch eine Friedenskonferenz. Wir brauchen eine neue Kultur des Miteinanders in der Linken. Mehr gemeinsam und nicht gegeneinander.
Sahra Wagenknecht spielt weiter mit dem Gedanken, eine neue Partei zu gründen. Spielt sie damit auch mit der Existenz jener Partei, der sie noch angehört?
Sahra Wagenknecht kokettiert jetzt seit mehr als einem halben Jahr damit, eine eigene Partei zu gründen. Sie muss sich entscheiden. Die Idee zu einer Parteineugründung schadet der Linken. Das Schüren von Spekulationen muss einfach aufhören.
Gregor Gysi hat gesagt, Wagenknecht könne die Partei nicht ewig quälen. Glauben Sie, dass Wagenknecht den Sprung wagt oder spaltet sie nur?
Damit hat Gregor Gysi völlig recht. Es reicht. Und es reicht auch Tausenden Mitgliedern, die sich jeden Tag in den Kommunen für die Menschen im Lande einsetzen. Das Schaffen immer neuer Unruhe ist einfach respektlos gegenüber der Partei. Und das muss aufhören. Wenn man ein halbes Jahr öffentlich über die Gründung einer neuen Partei nachdenkt, ist das parteischädigend.
Für ein Ende des Dauerstreits
Parteichef Martin Schirdewan führt seit dem Bundesparteitag von Erfurt im Juni vergangenen Jahres gemeinsam mit Janine Wissler die Partei Die Linke. Der 47 Jahre alte promovierte Politikwissenschaftler will die Partei nach einer Serie von Wahlniederlagen wieder stabilisieren. Er fordert eine neue Kultur des Miteinanders in der zerstrittenen Partei. Schirdewan ist zudem seit 2017 Mitglied des Europäischen Parlaments, für das im kommenden Jahr Wahlen anstehen. (hom)
De Maart
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