„Sie kamen bereits am Freitagmorgen“, erzählt Ihor K. (Name geändert) hastig am Telefon. „Es waren zwei Wahlhelferinnen mit einer mobilen Urne begleitet von zwei russischen Soldaten mit Kalaschnikows“, sagt er und gibt zu verstehen, dass er abgehört wird. Der Rentner Ihor K. lebt in einem Dorf in der Nähe von Nowa Kachowka, gut 100 Kilometer von Cherson entfernt. Die gleichnamige Oblast ist wie das Nachbargebiet Saporischschja seit Anfang März von der russischen Armee besetzt.
Cherson ist eines der vier Gebiete im Süden und Osten der Ukraine, in denen bis Dienstag ein Referendum über den angeblich freiwilligen Beitritt zur Russischen Föderation abgehalten wird. Nach mehreren Verschiebungen seit April wurde diese höchst umstrittene Volksbefragung am Mittwoch in höchster Eile anberaumt, denn durch die ukrainische Gegenoffensive ist das Gebiet unter großen militärischen Druck geraten.
Ein Rentner erzählt
Im dünn besiedelten Steppenland rund um Cherson setzten die russischen Besatzer offenbar vor allem auf Hausbesuche direkt bei den Wählern, um auf das gewünschte Wahlergebnis zu kommen. Die Wahlmöglichkeiten seien „Ja“ oder „Ja“, sei ihm von den beiden Helferinnen beschieden worden, erzählt Ihor. Wie er abgestimmt hat, lässt er offen. „Im Dorf ist die große Mehrheit gegen den Anschluss an Russland, aber viele haben Angst“, sagt der Rentner. Keiner der vier ungebetenen Besucher hätte ihn zu einer Stimmabgabe gezwungen, aber schließlich sei unklar, mit welchen Konsequenzen jene rechnen müssten, die sich weigerten, am Referendum teilzunehmen, erklärt Ihor K.
Referenden: Putins Fahrplan
Dienstag, 27. September: Auszählung der Stimmen.
Mittwoch, 28. September: Das russische Unterhaus, die Duma, wird für die Eingliederung der vier Regionen an Russland stimmen.
Donnerstag, 29. September: Das russische Oberhaus, der Föderationsrat, wird für die Eingliederung der vier Regionen an Russland stimmen.
Freitag, 30. September: Der russische Präsident Wladimir Putin wird eine Rede vor der Föderationsversammlung halten, also vor dem Föderationsrat und der Duma zusammen, wo er die Vereinigung der vier Regionen mit Russland ankündigen wird.
Die Gegend zwischen dem Fluss Dnipro und der seit 2014 nach einem ähnlichen Referendum von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim, entlang dem strategisch wichtigen Krim-Kanal, hat sich seit der russischen Invasion vor einem guten halben Jahr weitgehend entvölkert. In Ihors Dorf sind nur die Rentner und ein paar kollaborationswillige Einwohner zurückgeblieben. „Vier Fünftel der Leute sind weg, ich kann nicht, denn für ein neues Leben bin ich zu alt“, sagt der Mann, der zu Sowjetzeiten auf der Kolchose gearbeitet hat.
Vier Fünftel der Leute sind weg, ich kann nicht, denn für ein neues Leben bin ich zu alt
Dass die Russland-Begeisterung in der Gegend um Cherson nicht besonders groß ist, gibt selbst die für das Referendum zuständige Zentrale Wahlkommission Russlands in Moskau zu. Laut der russischen Nachrichtenagentur Tass haben in der Oblast Cherson am Freitag, dem ersten der fünf Abstimmungstage, lediglich 15,31 Prozent der Bewohner am Referendum teilgenommen. Bessere Resultate vermelden die Zentralen Wahlkommissionen der 2014 von pro-russischen Separatisten selbst ausgerufenen „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk: In der „Volksrepublik Donezk“ (DNR) sollen bis Samstagabend 55 Prozent der Bevölkerung am Referendum teilgenommen haben, in der „Volksrepublik Luhansk“ soll knapp über die Hälfte der Einwohner bereits abgestimmt haben. Das Referendum dauert noch bis Dienstag.

Das von Moskau gewünschte Ergebnis dürfte zusätzlich gepuscht werden durch 84 Wahllokale, die auf dem Gebiet Russlands für ukrainische Flüchtlinge eingerichtet wurden. 20 davon befinden sich alleine in Moskau. Laut Kiewer Schätzungen wurden bis zu 1,6 Millionen Einwohner aus den vier Gebieten nach Russland verschleppt. Das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR verzeichnet 2,69 Millionen ukrainische Flüchtlinge in Russland.
Lawrow und die Atombombe
Die russischen und separatistischen Wahlkommissionen klagten am Sonntag über ukrainische Störmaßnahmen entlang der ganzen Frontlinie. Im Stadtzentrum von Cherson soll am frühen Sonntagmorgen ein Hotel mit vielen Medienvertretern durch einen Präzisionsschlag getroffen worden sein. Tass vermeldete zwei Todesopfer, darunter ein ukrainischer Ex-Parlamentarier, der seit 2015 in Russland lebte. Am Samstag mussten offenbar in Luhansk Wahllokale in bombensichere Keller verlegt werden. In der Oblast Cherson soll dazu das Städtchen Nowa Kachowka alleine am Freitag zehnmal beschossen worden sein.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat in der Nacht zum Sonntag noch einmal bestätigt, dass die russische Militärstrategie im Falle eines „Ja“ für den Anschluss auch für die vier neuen Regionen gelten würde. Sie sieht den Einsatz von Nuklearwaffen im Falle eines Angriffs auf russisches Gebiet vor. Der formelle Abschluss könnte bereits am 30. September in Moskau besiegelt werden. Kiew hat inzwischen eine Dringlichkeitssitzung des UNO-Sicherheitsrats beantragt. Kiew, Washington und Brüssel haben die Referenden scharf kritisiert und angekündigt, die Resultate nicht anzuerkennen.
De Maart
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