GesellschaftRussland geht noch stärker gegen sexuelle Minderheiten vor – praktisch jede Queer-Person im Land wird kriminalisiert

Gesellschaft / Russland geht noch stärker gegen sexuelle Minderheiten vor – praktisch jede Queer-Person im Land wird kriminalisiert
Oleg Nefyodov, Richter am Obersten Gerichtshof der russischen Föderation, verliest ein Urteil gegen die „internationale LGBT-Bewegung“, die als solche nicht existiert Foto: AFP/Natalia Kolesnikova

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Russland geht noch stärker gegen sexuelle Minderheiten vor – und erklärt die „internationale LGBT-Bewegung“, die das Justizministerium sich ausgedacht hat, für „extremistisch“. Damit wird praktisch jede Queer-Person im Land kriminalisiert.

Es treten auf: Beamte aus dem Justizministerium in Masken und ein Richter des Obersten Gerichtshofes. Die Anklagebank bleibt leer. Die Türen sind verschlossen. Verhandelt wird etwas, das es gar nicht gibt. Niemand kann sagen, was einer nicht existierenden Bewegung vorgeworfen wird, niemand kann erklären, wie das Urteil angewendet werden soll. Das Justizministerium selbst hatte vor knapp zwei Wochen die Klage eingereicht. Eine „internationale LGBT-Bewegung“, von der bis dahin weder in Russland noch sonst auf der Welt jemand etwas gehört hatte, weise „verschiedene Erscheinungsformen einer extremistischen Ausrichtung“ auf, hatte es im Schreiben geheißen. Die „Bewegung“ stachele zu religiösem und sozialem Hass auf. Konkretes stand nicht in der Anklage. Gegen wen sich diese richtete, war ebenso unklar.

Das blieb es auch am Tag des Urteils. Eines Schuldspruchs, der praktisch jede und jeden in Russland kriminalisiert, die und der das Leben nicht nach „traditionellen Werten“ führt, wie sich das russische Regime diese „traditionellen Werte“ vorstellt. Alle, die sich für die Rechte sexueller Minderheiten einsetzen und in den vergangenen Jahren eingesetzt hatten, sind damit potenzielle „Extremisten“. Ihnen drohen bis zu sechs Jahre Haft.

Ich habe Angst. Angst, mein Kind in die Schule zu schicken, Angst, auf der Straße überfallen zu werden, Angst, einen Handwerker ins Haus zu lassen, der es vielleicht melden würde, wie wir als Familie aus zwei Frauen und einem Kind zusammenleben. Niemand wird sich für uns einsetzen.

Eine Frau gegenüber dem russischen Exilmedium „Meduza“

Es ist kein Dada-Stück, das an diesem Donnerstag mehr als fünf Stunden lang im Zentrum Moskaus aufgeführt wird. Es ist die Demonstration dessen, wie Russland die Existenz einer ganzen Gruppe von Menschen für gesetzeswidrig erklärt. Homophob zu sein, ist damit „in Mode“ im Land. Der Kreml hat längst jeden Andersdenkenden, jeden Anderslebenden zu inneren Feinden gemacht. Die Gesetze werden willkürlich eingesetzt. Was das neue Urteil für jeden Einzelnen bedeutet, lässt sich nicht sagen. Die neue Rechtslage verändert allerdings die Atmosphäre im Land. Beratungsstellen werden wohl in den Untergrund gehen, manche Menschen dürften aufgrund ihrer „nicht traditioneller sexueller Orientierung“, wie es im Russischen heißt, ihre Arbeit verlieren, andere auch ihre Freiheit. Die tägliche Erniedrigung von Queer-Personen ist nun Gesetz im Land. „Ich habe Angst. Angst, mein Kind in die Schule zu schicken, Angst, auf der Straße überfallen zu werden, Angst, einen Handwerker ins Haus zu lassen, der es vielleicht melden würde, wie wir als Familie aus zwei Frauen und einem Kind zusammenleben. Niemand wird sich für uns einsetzen“, sagt eine Frau, die das russische Exilmedium „Meduza“ anonym zitiert.

Das Urteil ist der vorläufige Höhepunkt der Repressionen sexueller Minderheiten in Russland. Das erste Gesetz gegen die sogenannte „Homosexuellen-Propaganda“ gegenüber Minderjährigen hatte die russische Region Rjasan südöstlich von Moskau bereits 2006 angenommen. Angewendet wurde es kaum. Allerdings war dieses ein perfekter Vorwand, Demonstrationen für die Rechte sexueller Minderheiten zu verbieten. Es folgten entsprechende Gesetze in weiteren Regionen – und 2013 landesweit. Die „Verbreitung von Informationen, die traditionelle und nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen gleichsetzen“ und „die Attraktivität nicht-traditioneller sexueller Beziehungen zeigen“ wurden so zur Ordnungswidrigkeit und mit Geldstrafen geahndet. Damit normalisierte der Staat Gewalt gegen sexuelle Minderheiten. Beratungsstellen markieren seitdem ihre Infobroschüren mit dem Zusatz „18+“, LGBT-Kinofestivals werden regelmäßig von Polizei oder offen homophoben Gruppen gestört.

Prozess ohne Angeklagte

2022 folgte der nächste Schlag. Nun richtete sich das Gesetz nicht nur gegen die „Propaganda gegenüber Minderjährigen“, sondern gegenüber allen. Die Höhe der Strafe, sollte jemand „nicht-traditionelle Beziehungen oder Geschlechtsumwandlungen propagiert“ haben, lag umgerechnet bei bis zu knapp 85.000 Euro. Filme wurden dementsprechend verändert, Beratungsstellen wurde die Arbeit erschwert. Vor vier Monaten verbot die Staatsduma schließlich medizinische Eingriffe sowie Medikamente zur Geschlechtsangleichung. Die Duma verbietet Transpersonen auch Adoptionen und Pflegschaften. Das Regime verfolgt die Menschen allein dafür, wer sie sind. Russlands Präsident Wladimir Putin macht sich über „Transformatoren“, wie er queere Personen verächtlich nennt, öffentlich lustig. Manche Aktivisten fragen sich, ob mit dem Extremisten-Urteil durch die Hintertür der sowjetische Paragraf 121 zurückkehre. Dieser stellte noch bis 1993 sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe. Ihnen drohte bis zu acht Jahre Haft oder die Einweisung in die Psychiatrie.

Weil sie die Klage für absurd hielten, hatten sich einige LGBT-Aktivisten vor wenigen Tagen tatsächlich als „internationale LGBT-Bewegung“ in Russland registrieren lassen. Selbst der Anwalt der neu gegründeten Gruppe wurde nicht zur Verhandlung zugelassen. Der Staat braucht nicht einmal mehr Angeklagte, um seine grotesken Entscheidungen zu treffen.

fraulein smilla
3. Dezember 2023 - 13.23

Russland mutiert langsam aber sicher zu einem Gottesstaat . Die Heilige Orthodoxie gegen den dekadenten Westen . Die Ukraine wird schon laengst nicht mehr entnazifiziert , sondern entsatanisiert . Nach Patriach Kyrill II kommt jeder russische Kaempfer der in diesem heiligen Krieg sein Leben laesst gleich zu Jesus ins Paradies .Eine Copy Paste des Kreuzzugpapstes Urban II 1097 .

JJ
3. Dezember 2023 - 9.03

Die Kriminellen kriminalisieren. Schöne Welt.