Russische Truppen sind am Mittwoch erstmals auf das Gelände des Stahlwerks „Asowstal“ in der Hafenstadt Mariupol vorgerückt. Panzer schossen sich von Osten her aus dem Stadtteil Lewobereschnaja den Weg auf die mehrere Quadratkilometer große, zerstörte Industrieanlage frei. Unterstützt wurden sie aus der Luft und von russischen Kriegsschiffen im Asowschen Meer aus. „Der Kontakt mit den Verteidigern ist am Mittwoch abgebrochen, wir wissen nicht, was dort passiert“, sagte der Kiew-treue Bürgermeister Wadim Bojtschenko. Die Stadt selbst ist bereits fest in russischen Händen.
Auf dem Gelände sollen sich in Atombunkern aus der Sowjetzeit noch mindestens 200 Zivilisten, darunter 30 Kinder, befinden. Genaue Zahlen kennt jedoch niemand. Ein Berater des Bürgermeisters hatte letzte Woche von bis zu 2.000 Zivilisten gesprochen. Dazu kommen rund 3.000 ukrainische Soldaten, Grenzschützer und Polizisten, darunter laut der ukrainischen Vizeregierungschefin Irina Wereschtschuk 40 Schwerstverletzte. Auf dem lokalen Telegram-Kanal „Mariupol Now“ waren auf einer Drohnenaufnahme sechs Explosionen innerhalb von 24 Sekunden zu sehen. Erwartet werden nun bald Häuserkämpfe der seit 1. März dort eingeschlossenen Soldaten.
Auf die Evakuierung folgt der Sturm
Der russische Sturm auf „Asowstal“ hatte am Dienstag sofort nach der Evakuierung einer ersten Gruppe von Zivilisten begonnen. Rund Hundert zu Kriegsbeginn ins Bunkersystem des Stahlwerks Geflüchtete wurden ab Freitag in mehreren Gruppen von UNO und Rotem Kreuz in mehrtägigen Busfahrten in die von Kiew kontrollierte Industriestadt Saporischschja evakuiert. Ein dafür nötiger Waffenstillstand und ein freies Geleit in einem sogenannten „grünen Korridor“ waren zuvor von UN-Generalsekretär António Guterres in Moskau und Kiew ausgehandelt worden.

Dabei wurden die evakuierten Zivilisten offenbar nicht genau informiert, wohin die Busfahrt geht. Einige Gruppen fuhren sofort nach Westen, in Richtung der 230 Kilometer entfernten ukrainischen Großstadt Saporischschja. Andere Busse fuhren zuerst ostwärts Richtung Russland.
„Den ganzen Tag über hatte ich fürchterliche Angst, nach Russland verschleppt zu werden“, klagte die Mittfünfzigerin Elina der ukrainischen Internetzeitung Ukrainska Prawda. Erst am Dienstag trafen in Saporischschja 156 Evakuierte ein, ein Teil davon aus „Asowstal“, ein Teil aus dem Umland von Mariupol. Elina ist eine von mehreren Tausend Angestellten des Stahlwerks. Vor dem russischen Angriff auf die Ukraine hatte sie dort im Contolling gearbeitet. „Wir hatten einen Bunker direkt unter unserem Arbeitsplatz“, erzählt die „Asowstal“-Angestellte. Mit Lebensmitteln hätten sie sich lange aus einer der Betriebskantinen versorgt, später hätten ihnen die Soldaten manchmal ihre eigenen Rationen vorbeigebracht, und dabei ihr Leben riskiert.
Wir wurden ausgezogen und alle Schrammen und Tattoos wurden notiert, sie prüften auch die Unterhosen
„Das Schlimmste war nicht, dass wir verhungerten und uns nicht waschen konnten, doch dass nichts mehr von uns abhing“, sagt sie. Elina geriet zuerst ein sogenanntes „Filtrationslager“ der russischen Besatzer im Küstendorf Bezimenoje rund 20 Kilometer östlich der größtenteils zerstörten Stadt. Das Dorf liegt in der 2014 von Separatisten selbst ausgerufenen pro-russischen „Volksrepublik Donezk“. Dort mussten die Evakuierten in Zelten schlafen und wurden von den Russen registriert. Dabei mussten sich besonders die Frauen erniedrigenden Leibesvisitationen unterziehen. „Wir wurden ausgezogen und alle Schrammen und Tattoos wurden notiert, sie prüften auch die Unterhosen“, erzählte eine andere Frau, Katja, der Ukrainska Prawda. Auch die Smartphones mitsamt allen SMS-Nachrichten und natürlich alles Gepäck sei geprüft worden. „Frauen mit Beziehungen zu ukrainischen Soldaten oder Polizisten wurden bedroht; man sagte uns, man würde uns den Kopf unserer Ehemänner in Paketen zuschicken“, erzählt Katja.
Am Mittwochmorgen konnten weitere Autobusse mit evakuierten Zivilisten Mariupol verlassen. Darunter befanden sich indes keine im „Asowstal“-Werk eingeschlossene Personen. Wann und ob die Busse überhaupt in Saporischschja ankommen, war unklar. Laut Petro Andruschtschko, dem Berater des Bürgermeisters, sind erst kürzlich 300 Einwohner Mariupols von den Russen nach Wladiwostok verschleppt worden.
Mehr als 1.200 Leichen rund um Kiew gefunden
In der Umgebung der ukrainischen Hauptstadt Kiew werden auch mehr als einen Monat nach dem Abzug der russischen Truppen beinahe täglich weitere Leichen von Zivilisten gefunden. Bis Mittwoch seien insgesamt 1.235 ermordete Zivilisten entdeckt worden, teilte der Chef der Gebietsverwaltung, Olexander Pawljuk, am Mittwoch im Nachrichtendienst Telegram mit. Davon seien 282 immer noch nicht identifiziert. Erst am Dienstag seien 20 neue Todesopfer mit Folterspuren in Leichenhallen gebracht worden. (dpa)
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