Dienstag30. Dezember 2025

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EditorialRettet die Vergangenheit! Warum generative KI nicht nur unsere Zukunft bestimmt

Editorial / Rettet die Vergangenheit! Warum generative KI nicht nur unsere Zukunft bestimmt

Folgen Sie mir, liebe Leser, in ein kleines Gedankenexperiment: Wann setzt Ihr Erinnerungsvermögen ein? Als kleines Kind? Wie weit reichen Ihre Erinnerungen an Ihre Kindheit zurück? Sind Sie fünf oder sechs Jahre alt? Noch jünger? Okay. Und jetzt denken Sie nach: Sind Sie sicher, dass Sie sich wirklich erinnern, diesen Moment erlebt zu haben? Oder imaginieren Sie vielleicht eine Erinnerung mithilfe von Fotos oder gar Videos, die es von diesem Moment gibt?

Letzteres trifft bei mir zu – zumindest bei meinen frühesten Erinnerungen. Und so geht es auch vielen Leuten, mit denen ich dieses kleine Experiment in den letzten Tagen durchgespielt habe. Warum aber diese Spielerei? Es geht mal wieder um die Macht der Bilder.

Ein Psychologenteam der University of Wellington und der University of Victoria zeigte vor einigen Jahren in einem Experiment Teilnehmern manipulierte Bilder, auf denen sie als Kind in einem Heißluftballon zu sehen waren. Obwohl dieser Ausflug nie stattgefunden hatte, meinten sich die Teilnehmer trotzdem daran zu erinnern. Fotos können also Erinnerungen erfinden. Problematisch wird das Ganze, wenn nun heutzutage generative KI ins Spiel kommt. An dieser Stelle zwei kleine Beispiele, die der Algorithmus mir jüngst auf den Bildschirm gespült hat. Zwei Beispiele, die auf den ersten Blick harmlos oder gar schön wirken – bei genauerer Betrachtung aber Unheil versprechen.

Beispiel eins zeigt den Geburtstag eines 90-jährigen Mannes und ein besonderes Geschenk eines Enkels: Er hat sehr alte Bilder aus dem Leben des Großvaters (die Eltern, die Geschwister, die Hochzeit) mithilfe von KI animiert und in kleine Videos verwandelt. Beispiel Nummer zwei ist eine Slideshow von Fotografien aus von Neonlicht durchfluteten japanischen Großstädten der 80er – komplett KI-generiert. Was beiden Beispielen gemeinsam ist: Sie zeigen eine Vergangenheit, die so nicht existiert hat.

Darin steckt zum einen ein politisch-gesellschaftliches Problem: Wir haben europaweit schon genug Probleme mit rechten bis rechtsextremen Parteien, die eine „bessere“ Vergangenheit beschwören, die so nie existiert hat – und damit sehr viele Menschen erreichen. Wie viel leichter wird es ihnen erst fallen, wenn sie die technischen Mittel haben, diese imaginierte Vergangenheit Realität werden zu lassen?

Zum anderen steckt darin auch ein kulturelles Problem: Die real existierende Vergangenheit wird entwertet. Die menschliche Erinnerung. Der alte Mann aus dem Video hat seinen eigenen Hochzeitskuss erlebt, jetzt wird er ersetzt durch KI-Schrott. Echte Kunst, echte Fotos werden von einer Müll-Masse verdrängt. Was ist die Analogfotografie einer Straßenszene aus dem Tokio des Jahres 1981 noch wert, wenn das Internet überschwemmt ist mit schnellem KI-Schrott, der so ähnlich (und für die meisten Menschen wohl ähnlich genug) aussieht. Am Ende heißt das: Unsere individuelle und kollektive Vergangenheit wird überschrieben, im schlimmsten Fall ausgelöscht.

Im filmischen Science-Fiction-Szenario von James Camerons „Terminator“ schickt eine KI aus der Zukunft eine Killer-Maschine in die Vergangenheit, um die Hoffnung der Menschheit auszulöschen. In Wirklichkeit wird das ganz unspektakulär ablaufen. KI wird unsere Vergangenheit viel geräuschloser und einfacher zersetzen. Wenn wir nicht dringend handeln. Es braucht harte Leitplanken und strikte Grenzen für generative KI. Bevor es zu spät ist.