Samstag1. November 2025

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MigrationPunktsieg für britische Ruanda-Politik – Bootsflüchtlinge dürfen nach Afrika abgeschoben werden

Migration / Punktsieg für britische Ruanda-Politik – Bootsflüchtlinge dürfen nach Afrika abgeschoben werden
„Stand Up To Racism“-Aktivisten halten Plakate vor dem High Court in London hoch: Ein britisches Gericht hat einen umstrittenen Plan der konservativen Regierung für den Umgang mit Asylsuchenden im Grundsatz bestätigt Foto: dpa/Kirsty Wigglesworth

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Das Londoner High Court hat geurteilt, dass die britische Regierung Bootsflüchtlinge nach Ruanda abschieben kann. Opposition und NGOs sind erschüttert.

Asylbewerber ohne jedes Verfahren aus Großbritannien nach Ruanda abzuschieben ist rechtmäßig, individuelle Fälle müssen aber überprüft werden. Mit diesem Urteil hat der Londoner High Court am Montag eine hochumstrittene Maßnahme der konservativen Regierung von Premierminister Rishi Sunak bestätigt, gleichzeitig aber Innenministerin Suella Braverman weitere Hausaufgaben aufgegeben. Die Labour-Opposition hält den Plan für „unausführbar, unethisch und total überteuert“.

Das Gericht hatte bereits im Frühjahr dem Plan der Regierung grundsätzlich zugestimmt; den Abflug eines bereits gecharterten Jets in das zentralafrikanische Land verhinderte im Juni eine einstweilige Anordnung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte EGMR in Straßburg. Da die Brexit-Insel weiterhin dem Europarat angehört, behält der EGMR seine Zuständigkeit. Man werde sich auch in Zukunft an die Straßburger Schiedssprüche halten, teilte Kabinettsminister Oliver Dowden am Wochenende mit.

„Enttäuschende Entscheidung“

Die Entscheidung des High Courts betraf zwei unterschiedliche Klagen. Den grundsätzlichen Einspruch mehrerer Menschenrechtsgruppen wiesen die beiden Richter ab: Wer auf „irregulärem Weg“, also nicht mittels einer der anerkannten Regierungsverfahren, auf die Insel komme und dort Asyl beantrage, dürfe nach Ruanda abgeschoben werden. Dies widerspreche weder der UN-Flüchtlingskonvention noch heimischen Gesetzen, urteilte das Duo. Die „enttäuschende Entscheidung“ werde den Widerstand nicht beenden, kündigten die Organisationen an: „Wir kämpfen weiter gegen diese brutale und feindselige Politik.“

Wen die Tories im Auge haben

Zielgruppe sind den Regierungsplänen zufolge vor allem alleinreisende junge Männer, die seit mehreren Jahren vermehrt mit Schlauchbooten den Ärmelkanal, eine der am meisten befahrenen Schifffahrtsstraßen der Welt, durchqueren. In diesem Jahr sind bereits mindestens 44.000 Menschen auf diesem Weg ins Land gekommen. Den organisierten Schlepperbanden müssen sie dafür zwischen 3.000 und 7.000 Euro pro Person bezahlen; erst vergangene Woche starben vier Flüchtlinge, als ihr Boot kenterte.

Das Königreich nimmt auf offiziellem Weg Flüchtlinge aus Hongkong, der Ukraine und Afghanistan auf. Unter den „illegal“ Ankommenden waren dennoch viele Afghanen, zudem Iraner und Menschen aus Ostafrika, vor allem dem Sudan. Viele von ihnen erhalten derzeit, nach häufig jahrelanger Ungewissheit, am Ende doch politisches Asyl.

Das Vorhaben der Regierung ist durch einen „Partnerschaftsvertrag“ mit der Republik des Präsidenten Paul Kagame abgesichert; für die Anlaufphase bezahlte London an Kigali 120 Millionen Pfund, später sind Zahlungen von jährlich 1,4 Milliarden Pfund vorgesehen. Die Deportierten würden in Ruanda einer rechtlichen Prüfung unterzogen und dort gegebenenfalls dauerhafte Ansiedlungsrechte erhalten. Die Rückkehr nach Großbritannien wäre ausgeschlossen.

Eine gleichzeitige Klage von acht Migranten, die für den ersten Abschiebungsflug vorgesehen waren, nahm das Gericht zum Anlass, dem Innenministerium eine neuerliche Prüfung der individuellen Umstände aufzuerlegen. Erst im Januar wollen die Richter entscheiden, ob gegen ihre Entscheidung Berufung eingelegt werden kann. Notfalls könnten die Betroffenen auch eine Sprungrevision zum Supreme Court anstreben. Deportationsflüge nach Ruanda würde es deshalb frühestens im Sommer 2023 geben.

Mehr Deals mit Europäern?

Erst im November hatte Großbritannien ein Kooperationsabkommen mit Frankreich aktualisiert. Mit üppigen Zahlungen aus London sollen mehr Polizisten entlang der Kanalküste patrouillieren, zudem werden Aufklärungs-Drohnen angeschafft. Der französische Innenminister Gérald Darmanin mahnte das Nachbarland am Montag dazu, vergleichbare Abkommen auch mit Belgien und den Niederlanden abzuschließen. Einem umfassenderen Abkommen mit der EU stehen ideologische Bedenken der Brexit-Regierung sowie der anhaltende Streit um die wirtschaftliche und politische Zukunft Nordirlands im Weg.

Das Einwandererkind Sunak steht wegen der Asyl- und der gesamten Einwanderungspolitik im Kreuzfeuer. Um die Flanke gegen Rechtspopulisten wie Nigel Farage abzusichern, machen in der Regierungspartei immer radikaler werdende Vorschläge die Runde. Neben der Deportation nach Afrika ist auch von dauerhafter Internierung ohne Verfahren die Rede.


Kommentar: Unmoralische Symbolik statt rationaler Politik

Wo verläuft die Grenze zwischen Armutsflüchtlingen und politisch Verfolgten? Wie viel Mitgefühl kann sich ein reiches europäisches Industrieland leisten? Wie reguliert man die Zuwanderung, die zur Erhaltung des Wohlstands nötig ist?

Mit diesen Fragen schlagen sich alle Gesellschaften Westeuropas herum, keinesfalls nur Großbritannien. Für die Briten kommen zwei Faktoren hinzu. Zum einen können sie nach dem Brexit keinerlei nachbarschaftliche Solidarität mehr einfordern, so brüchig diese auch innerhalb der EU an vielen Stellen inzwischen geworden ist. Wenn Frankreich sowie die anderen Anrainer der Ärmelkanalküste der Insel helfen sollen, muss dies in klingender Münze bezahlt werden.

Zum anderen bleibt das Königreich ein Anziehungspunkt für viele Menschen rund um den Globus, weil sie wissen: In der Weltstadt London, aber auch in anderen Großstädten sind Menschen der unterschiedlichsten Herkunft zu Hause, die Hunderte von Sprachen und Dialekten sprechen. Auf dem durchlässigen Arbeitsmarkt können fast alle mit einigen Brocken der Weltsprache Englisch ihr Auskommen finden. Das Fehlen jeglicher Meldepflicht trägt das ihre dazu bei; seriösen Schätzungen zufolge leben bis zu 745.000 Menschen illegal auf der Insel, knapp 400.000 davon allein in der Hauptstadt.

Eine rational handelnde Regierung würde also Personalausweise einführen, das kaputte Asylsystem auf Vordermann bringen, für rasche Verfahren und konsequente Abschiebung sorgen. Gleichzeitig könnten Armutsmigranten zeitlich begrenzte Arbeitsmöglichkeiten erhalten, schließlich gibt es Hunderttausende von offenen Stellen zu füllen.

Stattdessen setzt Rishi Sunaks Regierung auf die hochsymbolische Abschiebung junger Migranten nach Ruanda; der High Court hat dies jetzt für rechtens erklärt. Das Vorgehen bleibt, wie die Kirchen sowie die Opposition zu Recht sagen, unmoralisch und exorbitant teuer. Und die viel beschworene Abschreckung? Wer im Ärmelkanal Leib und Leben riskiert, dürfte für dieses Argument auch in Zukunft unzugänglich bleiben.