RusslandPrügelnde Jugendbanden: TV-Serie über Perestroika-Zeiten weist Parallelen zu heute auf

Russland / Prügelnde Jugendbanden: TV-Serie über Perestroika-Zeiten weist Parallelen zu heute auf
Kinder der russischen Bewegung Junarmija, einer Kinder- und Jugend-Militär-Erziehungsorganisation Russlands, stehen auf dem Roten Platz in Moskau. Ihnen lässt der Staat eine andere Sozialisierung angedeihen als die in der TV-Serie gezeigt. Foto: AFP/Natalia Kolesnikova

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Eine neue russische Serie über Jugendbanden zu Zeiten der Perestroika weist erstaunliche Parallelen zur heutigen Vertrauenskrise im Land auf. Das Werk schlägt Zuschauerrekorde. Nun will die Staatsduma „Das Wort des Jungen“ verbieten.

Spitzbübisch schaut er durch die Tür, sein rotes Pionierhalstuch steckt brav gebunden hinter dem Kragen seiner dunkelblauen Schuluniform. Andrej (Leon Kemstatsch) ist Einserschüler, ein feingliedriger blonder 15-Jähriger, der auf einem Tisch Klavierspielen lernt, mit Kreide hat er die Tasten darauf gemalt. Für ein richtiges Instrument fehlt seiner alleinerziehenden Mutter das Geld. Es ist die Zeit der Perestroika, eine Zeit, in der Gewissheiten zusammenbrechen, in der die Vergangenheit nicht mehr zählt, die Gegenwart unsicher ist und die Zukunft völlig vage.

„Ich habe es satt, ein Tschuschpan zu sein“, sagt Andrej schließlich vor einer Gruppe Gleichaltriger im Schnee. „Tschuschpan“ lässt sich nicht übersetzen, es ist ein Codewort für „Opfer“. Andrej erlebt keinen Tag, an dem er nicht abgezogen, erniedrigt, geschlagen wird. Er will ein cooler Junge sein. Ein „Pazan“. Will nicht verprügelt werden, sondern selbst prügeln. Er lernt es schnell, kaum hat ihn sein neuer Freund Marat (Rusil Minekajew) zur Jugendbande seines Bruders Wowa (Iwan Jankowski) mitgenommen, eines gerade zurückgekehrten Afghanistan-Soldaten. Für Andrej gibt es kein Zurück mehr, für keinen der Jugendlichen, die Schutz suchen, stattdessen jedoch Tod und Verderben finden.

Der russische Regisseur Schora Kryschownikow hat die wahre Geschichte um die Jugendkriminalität in Kasan, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tatarstan, Ende der 1980er-Jahre in düstere, ja grausame Bilder seiner achtteiligen Serie „Das Wort des Jungen: Blut auf dem Asphalt“ verpackt. Die Folgen laufen derzeit auf unterschiedlichen Online-Plattformen und brechen Zuschauerrekorde. Es sind Bilder von grausigen Schlägereien, von Überfällen, unbeugsamen Kämpfen, mit denen die Halbwüchsigen sich Gehör zu verschaffen versuchen, von den Erwachsenen aber für rein böse gehalten und aufgegeben werden. Die Väter und Mütter finden keinen Zugang mehr zu ihren Kindern. Mit Worten nicht, mit körperlicher Züchtigung noch weniger.

Chaos im Land und in den Köpfen

„In unserem Land herrscht Chaos, und in euren Köpfen auch“, schreit der Vater von Marat und Wowa. Sie lassen ihn stehen und ziehen zum nächsten Kampf mit einer verfeindeten Bande. Sie „teilen“ den „Asphalt“ in ihrer Stadt, kämpfen unerbittlich um „ihr“ Territorium. Sie tun das nach ihren eigenen Regeln, tun das nach den Gesetzen der Stärke. Es gibt nur die Wahl zwischen „Tschuschpan“ oder „Pazan“, dazwischen gibt es nichts.

Die Serie greift das soziale Phänomen der Jugendbanden auf. Kryschownikow und sein Drehbuchautor Andrej Solotarjow fragen nach dem Warum. Sie wollen dem Verlust des Vertrauens nachgehen, den Mechanismen des Überlebens, wenn die Welt um einen herum zusammenbricht. Was macht das mit Menschen? Was mit Jugendlichen, die Halt suchen, von Eltern, Schule, dem Staat aber nicht gehört werden? „Das Wort des Jungen“ ist ein brutales Drama des Erwachsenwerdens, eine grausame Geschichte der Entfremdung von Generationen. „Verbrechen, die ungesühnt bleiben, kehren potenziert zurück“, sagte der Regisseur bei der Premiere vor einigen Tagen. Mit dem Drehen hatte er noch vor Russlands Einmarsch in der Ukraine begonnen, seine Serie aber weist erstaunliche Parallelen zu Verheerungen im heutigen Russland auf. Kunstvoll wie erbarmungslos illustriert Kryschownikow eine Gesellschaft, die nach der Regel „Der Stärkere hat Recht“ lebt. Er zeigt, wie alles in Gewalt, Lügen und Zynismus aufgeht.

Auch Russlands Präsident Wladimir Putin und seine Silowiki, die Sicherheitsorgane, sind sogenannte „Pazany“, Jungs, deren Weltbild sich aus dem Ehrbegriff des Gefangenenwesens speist: schlagen, unterdrücken, erniedrigen. Wenn die Russen „po-pazanski“ sagen, meinen sie damit die Sozialisierung im Hinterhof, wo geprügelt und unterworfen wird. So wird Gerechtigkeit verstanden. Putin erzählt stets voller Stolz über seine Jugend in den Hinterhöfen seines Leningrader Bezirks, wo er allein für sich einstehen musste – mit Schlägen.

Nun hat sich auch der Staat der Serie angenommen – auf die gewohnte Art. „Das Wort des Jungen“ soll verboten werden. Die Serie fördere einen gefährlichen Lebensstil von Jugendlichen, behauptet die für den Schutz der Familie zuständige Duma-Abgeordnete Nina Ostanina. Es geht einmal mehr ums Untersagen, nicht um die Auseinandersetzung von kausalen Zusammenhängen. Derweil gibt sich der Präsident weiterhin als der Ober-Pazan, der nach seinen eigenen Regeln lebt und den Rest um sich herum zu unterwerfen versucht, durch den Kult der Stärke.