Wie kritisch er selbst seine Lage einschätzt, hat Boris Johnson diese Woche durch zwei Appelle demonstriert. Persönlich bat der Premierminister die Wähler im lieblichen mittelenglischen Bezirk Shropshire um Vertrauen: Bei der Nachwahl zum Unterhaus an diesem Donnerstag sollen sie das Kreuz beim konservativen Kandidaten machen und damit seine Arbeit stärken. Das gilt in Großbritannien, wo die Regierungschefs sich traditionell aus Nachwahl-Kampagnen heraushalten, noch immer als ungewöhnlich.
Der 57-Jährige muss hoffen, dass das Abweichen von der Konvention ihm mehr Sympathien einbringt als sein zweiter Appell am Dienstagnachmittag. Da hatten die Fraktionsmanager kurzfristig die konservativen Abgeordneten im Unterhaus zusammengerufen: Persönlich wollte der Chef die Lage im Kampf gegen die neue Omikron-Variante von SARS-CoV-2 beschreiben und um Unterstützung für neue Corona-Einschränkungen in England werben. „Wir sollten heute Abend das Richtige für unser Land tun“, rief Johnson. Donnerndem Applaus folgten wenig später saftige Abstimmungsschlappen: Mehr als 100 von 361 Torys verweigerten ihrer eigenen Regierung die Gefolgschaft; neben einer Zahl von Enthaltungen stimmten 101 von ihnen ausdrücklich gegen die 3G-Regelung, die nun in England beim Besuch von Großveranstaltungen gilt.
Über die korrekte Interpretation dieser brutalen Watschn gab es tags darauf heftige Debatten. Manche mag die Sorge um eine Erosion der Bürgerrechte ins Nein-Lager getrieben haben – wobei zu den Rebellen auch eine Reihe jener Konservativer gehörten, die wenige Tage zuvor nicht nur das Asylrecht beschnitten, sondern auch die Aberkennung der Staatsbürgerschaft ohne Einspruchsrecht befürwortet hatten. Ein Impfpass, das erinnere ihn an „Nazi-Deutschland“, gab Marcus Fysh zu Protokoll und zementierte damit seinen Ruf als Dummbauz des Unterhauses.
Der Aufstand gegen die Regierung war insofern billig zu haben, als Labour vorab die Unterstützung der Maßnahmen versprochen hatte. Oppositionsführer Keir Starmer rieb seinem Kontrahenten am Mittwoch genüsslich unter die Nase, dass dieser ohne die Stimmen seiner Partei keine Mehrheit hatte: „Dem Premierminister fehlt die moralische Autorität, das Land durch die Pandemie zu führen.“
Sehen das die Nein-Sager ähnlich? Oder wollten sie ihren Chef nur zu größerer Sorgfalt und pfleglichem Umgang mit der Fraktion ermuntern? Johnsons Beliebtheit hält sich in engen Grenzen, der frühere Starjournalist ist keiner, der mediokre Hinterbänkler umschmeichelt. Gewählt haben sie ihn, weil er stets als Wahlgewinner galt, der Sieg vom Dezember 2019 bestätigte das Image. Derzeit aber liegen die Torys in den Umfragen um bis zu acht Prozent hinter Labour.
Schmerzensschrei der Rebellen
„Einen Schmerzensschrei“ konstatierte einer der Rebellen als Ursache des ungewöhnlichen Abstimmungsverhaltens und spielte damit auf die Pannen der vergangenen Wochen an. Da wurde eine lange versprochene Neubaustrecke der Eisenbahn gestrichen; die Finanzierung einer teuren Reform der Pflegehilfe geriet ebenso ins Zwielicht wie die Bezahlung der Kosten für eine umfangreiche Renovierung von Johnsons Dienstwohnung in der Downing Street.
Vor allem aber ärgern sich viele Fraktionsmitglieder über die Nonchalance, mit der ihr Parteichef sie im November ins Sperrfeuer der Kritik laufen ließ. Damals ging es um den Abgeordneten für Nord-Shropshire, Owen Paterson, dem der Ältestenrat unerlaubtes Lobbying nachgewiesen hatte. Die fällige Bestrafung durchs Parlament unterlief Johnson, indem er mit den Stimmen seiner Fraktion eine neue Untersuchung durchsetzte – und die Maßnahme tags darauf zurückzog, weil der geplanten neuen Regelung die zwingend nötige überparteiliche Unterstützung fehlte. Paterson trat zurück, was die Nachwahl nötig machte.
Im Wahlkampf vor Ort spielten die Schlagzeilen der vergangenen Wochen eine zunehmende Rolle: Beinahe täglich verbreiten die Zeitungen neue Fotos von Weihnachtspartys vor Jahresfrist in der Downing Street sowie anderen Ministerien, aber auch in der konservativen Parteizentrale. Dabei galt im Advent 2020 in London ein Verbot geselliger Zusammenkünfte, ehe das ganze Land zu Beginn 2021 im strengen Lockdown verschwand. Besonders Furore machte eine Abbildung des Regierungschefs mit zwei Lametta-geschmückten Mitarbeitern – Johnson selbst trug wenigstens korrekten Anzug und Krawatte. Da hätten der Premier und seine Leute „die Öffentlichkeit zum Narren gehalten“, fasste Labour-Chef Keir Starmer die Stimmung im Land zusammen.
Ähnliches bekommen die konservativen Wahlkämpfer in den Marktstädtchen Oswestry, Market Drayton und Whitchurch sowie den umliegenden Dörfern zu hören. Nord-Shropshire schickt seit Menschengedenken Torys ins Parlament: Paterson durfte sich vor zwei Jahren über 62,7 Prozent aller abgegebenen Stimmen freuen, der zweitplatzierte Labour-Mann landete abgeschlagen bei 22 Prozent. Aber ebenfalls seit Menschengedenken nutzen die Briten Nachwahlen als Denkzettel für eine Regierung, mit der sie nicht mehr einverstanden sind. Der ländliche Bezirk an der Grenze zu Wales ist plötzlich zum Schauplatz eines Referendums über Boris Johnson geworden.
Geht der Sitz verloren, dürfte der Stuhl des Premierministers stark wackeln. Ob die Rebellen dann die Vertrauensfrage stellen? Eigentlich sei dies die logische Folgerung ihrer Verweigerung, analysiert der Tory-Lord Daniel Finkelstein in der Times: „Man kann nicht von anderen Unterstützung für eine Regierung erwarten, der man selbst nicht traut.“
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