Mit ernsten Gesichtern haben sich 400 Männer der 16. Mechanisierten Division im leichten Schneetreiben auf einem Appellplatz in Olsztyn (Allenstein) in Masuren aufgestellt. Es handelt sich um „Freiwillige Zeitsoldaten des Polnischen Heeres“, keine Berufssoldaten. 15.000 Ausbildungsplätze wurden im Mai für diese neue polnische Truppe zusätzlich geschaffen; 25.000 weitere sollen 2023 dazu kommen. 3.000 Zeitsoldaten wurden alleine im Dezember vereidigt. Über zehnmal mehr sollen es Ende nächsten Jahres sein. Um dies zu unterstreichen, ist Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak eigens nach Olsztyn angereist. „Wir bilden euch aus, weil wir das Heer vergrößern wollen, damit Polen sicherer wird“, sagt der rechtsnationale Verteidigungsminister. Blaszczak lässt durchblicken, dass er auf den freiwilligen Eintritt vieler Zeitsoldaten ins Berufsheer hofft. Laut Verteidigungsministerium in Warschau sollen dies in Olsztyn Dreiviertel der Vereidigten erwägen, ein Viertel will weiterhin ihrem zivilen Beruf nachgehen, jedoch der nach dem Wahlsieg der Rechtskonservativen neu geschaffenen „Territorialverteidigung“ (WOT) als Reservisten zur Verfügung stehen.
Einen Monat Grundausbildung und elf Monate Fachausbildung sollen die neuen Zeitsoldaten erhalten. Das Heer zahlt ihnen in der Zeit umgerechnet rund 850 Euro pro Monat, etwas unter dem polnischen Durchschnittsverdienst. Dennoch ist die neue Truppe vor allem in den ärmeren Gebieten Ostpolens nicht unbeliebt, auch in Masuren. „Nun seid ihr ausgebildet, das ist wichtig, denn über Jahre hinweg wurde die Ausbildung vernachlässigt“, hebt Blaszczak zu einem Seitenhieb auf die verhasste liberale Opposition aus, die 2007-2015 Polen regierte.
Nach den USA größte Truppe eines NATO-Mitglieds
Noch setzt man auf Freiwilligkeit. Das Verteidigungsministerium hat aber bereits bekannt gegeben, dass bald Vertreter bestimmter Berufsgruppen, wie etwa Ärzte oder IT-Spezialisten, für eine militärische Ausbildung aufgeboten werden können. „Nur ein starkes Polen, mit einer starken Armee und Patriotismus wird ein Gegner sein, den man nicht angreift“, lautet Jaroslaw Kaczynskis Credo.
Der wie ein langweiliger Amtsschimmel wirkende Mariusz Blaszczak ist Polens Gesicht für die beispiellose Aufrüstung und Umgestaltung des heute 115.000 Berufssoldaten zählenden Heeres. Bis 2035 soll dieses auf 300.000 Mann ausgebaut werden – im Vergleich dazu zählt die deutsche Bundeswehr 180.000 Mann – und sodann die größte Truppe eines NATO-Mitglieds nach den USA stellen. Vorgesehen sind 250.000 Berufs- und 50.000 WOT-Soldaten. Polen reagiert damit auf die russische Invasion im östlichen Nachbarland Ukraine.
Doch Russland wird in Warschau nicht erst seit dem offenen Ukraine-Krieg als potenzielle Gefahr angesehen. Nach der Wende von 1989 setzte Warschau alles daran, NATO-Mitglied zu werden. Dies gelang 1999, ein Schritt, den der russische Staatspräsident gemäß seinen gewünschten „Sicherheitsgarantien“ am liebsten rückgängig machen würde. Bis zum 25. Jahrestag der NATO-Mitgliedschaft will Polen mindestens drei Prozent des BIP für die Verteidigung ausgeben, in den darauffolgenden Jahren sollen es laut dem Willen von Regierungsparteichef Jaroslaw Kaczynski fünf Prozent werden. Wann diese enorme Summe erreicht wird, ist indes unklar, denn Polen kämpft im Moment mit einer hohen Inflationsrate von gut 17 Prozent und muss sich immer mehr verschulden, um die Armee auf Vordermann zu bringen und die Wähler mit Sozialleistung bei der Stange zu halten. Denn im Herbst 2023 will Kaczynskis Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) zum dritten Mal als stärkste Kraft wiedergewählt werden.
Lange und teure Einkaufsliste
Und so betreibt Kaczynskis Verteidigungsminister eben auch bereits Wahlkampf, wenn er – wie erst vor gut zwei Wochen – neue Waffenlieferungen in Empfang nimmt. An jenem windigen Dienstag stellte sich Blaszczak zusammen mit dem südkoreanischen Vizeverteidigungsminister Eom Dong-huan für die Fernsehkameras vor dem Containerterminal im Ostseehafen Gdynia (Gdingen) auf, während aus dem Frachter „Pearl“ die ersten zehn südkoreanischen, über 50 Tonnen schweren K2-Panzer sowie 24 K9-Panzerhaubitzen aufs Quai gehievt wurden. „Wir wollen den Frieden, deshalb bereiten wir uns auf den Krieg vor. Wir entwickeln das Polnische Heer zahlenmäßig und verstärken es durch moderne Ausrüstung“, sagte Blaszczak in Gdynia. Bereits im kommenden Jahr soll ein Teil dieser Waffen im so genannten Offset-Verfahren in Polen gefertigt werden.
Bei der Ratlosigkeit Frankreichs und Deutschlands fällt die Verantwortung der Verteidigung der NATO-Ostflanke und der Grenzziehung für das neo-sowjetische Imperium uns zu
Blaszczaks Einkaufsliste ist lang – und teuer: 150 bis 210 Milliarden Euro sollen bis 2035 für neue Waffensysteme ausgegeben werden – 70 Prozent davon im Ausland. In Seoul hat Warschau bei einer Hyundai-Tochter rund 1.000 Panzer, 672 Panzerhaubitzen und 48 FA-50 Kampfjets bestellt. In den USA wurden 250 neue und 116 gebrauchte „Abrams“-Panzer kontraktiert, dazu 500 Himars-Raketenwerfer und F-35 „Stealth“-Kampfjets. Dazu kommen 35 Helikopter aus Italien, 168 Jeeps aus Großbritannien und 1.400 „Borsuk“-Radpanzer aus eigener Produktion. Auch 3.500 Ein-Mann-Raketenwerfer möchte man noch. Und natürlich die beliebten amerikanischen „Patriot“-Raketenwerfer, 16 Staffeln bis zum Jahr 2026, für die man laut polnischen Medienberichten doppelt so viel bezahlt wie Rumänien.
Warschau setzt auf eigene Wehrfähigkeit
Mit diesem Waffenarsenal in den Händen eines mindestens doppelt so großen Berufsheeres will Polen Deutschland den Rang als wichtigster Verbündeter der USA ablaufen. „Berlin zaudert ewig und paktiert immer noch heimlich mit den Russen“, heißt es bei PiS. Doch selbst in der Opposition kommt Deutschland nicht gut weg: „Deutschland hat sich in Bezug auf Russland getäuscht“, sagte der ehemalige Verteidigungs- und Außenminister Radoslaw Sikorski am vergangenen Freitag in einem Interview mit dem deutschen Nachrichtenmagazin Cicero. „Wir erwarten dafür keine Entschuldigungen, aber wir erwarten nun von Deutschland, dass es beginnt, uns (Polen) zuzuhören.“
Heute würde die Ukraine Europa gegen Russland verteidigen, morgen aber müsse auch Polen dazu fähig sein, ist nicht nur in Regierungskreisen zu hören. Dabei will sich Warschau nicht auf die NATO-Verbündeten, allen voran nicht auf Deutschland verlassen, sondern die Initiative selbst in die Hand nehmen. Grund dafür sind tragische historische Erfahrungen Polens, das jahrhundertelang zwischen zwei aggressiven Nachbarn eingezwängt war – Deutschland und Russland. 1939 wurde das Land dazu in den geheimen Zusatzprotokollen zum Hitler-Stalin-Pakt zwischen Nazi-Deutschland und der UdSSR aufgeteilt; Großbritannien und Frankreich hatten Warschau zwar Waffenhilfe für den Kriegsfall zugesichert, doch den Polen nach dem Überfall keine Truppen geschickt. Polen hielt damals der deutsch-russischen Übermacht nur 36 Tage stand – die Ukraine ist im Vergleich dazu im 298. Kriegstag (am Sonntag) – und verlor bis Mai 1945 ein Drittel seiner Bevölkerung. Dies darf sich nicht wiederholen, da sind sich alle Polen einig. Das polnische Staatsradio kommentierte Mitte Dezember die neusten Waffenkäufe so: „Bei der Ratlosigkeit Frankreichs und Deutschlands fällt die Verantwortung der Verteidigung der NATO-Ostflanke und der Grenzziehung für das neo-sowjetische Imperium uns zu.“
De Maart
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