Die Grundschuldirektorin von Przewodow spricht am Mittwochmorgen in einem Videoblog des Nachrichtenportals onet.pl von Panik im Dorf, doch sie selbst wirkt ziemlich ruhig. „Die Kinder brauchen psychologische Betreuung, die Erwachsenen auch“, sagt die Schwarzhaarige mit ernstem Ton. Einer der Toten war der Ehemann einer langjährigen Putzkraft ihrer Schule.
Im 400-Seelen-Dorf Przewodow kennt jeder jeden. Nun ist das Dorf abgesperrt. Sicherheitskräfte prüfen jeden, der das Dorf betritt oder verlässt. Im strömenden Regen werden immer noch Trümmerteile von einer oder zwei Raketen gesucht. Wie viele eingeschlagen haben, ist unklar. Geklärt hat sich indes, dass es sich nicht um Geschosse der russischen Armee handelte, wie polnische Regierungspolitiker in der Nacht zum Mittwoch mutmaßten, sondern um ukrainische Raketen, die russische Marschflugkörper abfangen sollten.
„Das war keine gezielte Rakete auf Polen“, stellte Staatspräsident Andrzej Duda am Mittwochmittag am Rande eines Treffens des Nationalen Sicherheitsrats klar. „Wahrscheinlich handelte es sich um eine Rakete russischer Produktion aus den Siebzigerjahren; nichts deutet darauf hin, dass sie von der russischen Armee abgeschossen wurde“, betonte Duda. Der noch junge polnische Staatspräsident verwechselte dabei russisch und sowjetisch. Beide Armeen bekämpfen sich in erster Linie mit Waffen, die in der UdSSR bis zu deren Zerfall 1991 produziert worden sind. Ihre Typenbezeichnungen sind in russischer Sprache wie damals üblich. Russisch sind sie deshalb nicht automatisch; gerade in der Ukrainischen SSR wurden während der Sowjetzeit viele Raketen hergestellt. Es handle sich wohl um eine S-300 Rakete, berichtete Duda.
Die am Mittwoch wahrscheinlichste Hypothese ging davon aus, dass eine S-300 der ukrainischen Armee eine ebensolche Rakete der russischen Armee abschießen sollte und sich dabei auf polnisches Gebiet verirrt hatte. Dabei war am Dienstagnachmittag kurz vor Einbruch der Dunkelheit in dem flachen 400-Einwohnerdorf sieben Kilometer von der polnisch-ukrainischen Grenze eine Getreideankaufstelle getroffen worden. Zwei Männer im Alter von 50 und 60 Jahren waren sofort tot.
Ziel der russischen Armee könnte das regionale ukrainische Kraftwerk von Dobrotwirska, 30 Kilometer südöstlich des polnischen Dorfes Przewodow, gewesen sein. Dieses bot sich als natürliches Ziel der massivsten russischen Angriffe auf die ukrainische zivile Infrastruktur seit dem 10. Oktober an. Zehn russische Raketen sind laut Kiewer Armeeangaben alleine am Dienstag in der direkt an Polen angrenzenden Oblast Lwiw (Lemberg) abgeschossen worden. Insgesamt schossen die Russen etwas über 100 Raketen auf die Ukraine. Dabei verloren rund zehn Millionen Haushalte der Ukraine den Strom, vor allem im Westen entlang der polnischen Grenze.
Polen befürchten russische Vergeltungsschläge
Erstmals gingen auch in weiten Teilen des an die Ukraine im Südwesten angrenzenden Moldawiens die Lichter aus. In Moldawien war bereits Anfang November eine von den Ukrainern abgeschossene russische Rakete im Grenzdorf Naslavcea eingeschlagen, die allerdings keine Opfer forderte.
Kiew hat nach vehementem Abstreiten in der Nacht zum Mittwoch Warschau inzwischen seine Hilfe bei der Aufklärung der Explosionen im Dorf Przewodow angeboten. Der Unfall ist nicht zuletzt deswegen heikel, weil viele Polen, trotz aller Solidarität mit der Ukraine, schon lange befürchtet hatten, dass man als neuer Frontstaat in den Ukraine-Krieg hineingezogen werden könnte. Dabei dachten die meisten bisher vor allem an die westlichen Waffenlieferungen, von denen der Löwenanteil über den südostpolnischen Flughafen Rzeszow-Jasionka läuft. Von dort bieten sich sechs Güterzuglinien aus Ostpolen in die Ukraine zum Weitertransport an. Auch ohne die Drohungen des Kremls halten viele Polen Vergeltungsschläge der russischen Armee nicht für ausgeschlossen.
Da die Rakete von Przewodow mutmaßlich keine russische ist, hat Premier Mateusz Morawiecki nun bekannt gegeben, dass keine Konsultationen nach Artikel-4-Verfahren der NATO eingeleitet würden. Doch wollen polnische Kampfjets in erhöhter Bereitschaft die Ostgrenze zur Ukraine ab sofort häufiger als bisher abfliegen. Damit soll eine Wiederholung solcher Kollateralschäden verhindert werden. Der polnische Generalstab erklärte jedoch am Mittwoch auch, keine Luftabwehr der Welt könne das ganze Land schützen.
„Was geht Putin nur durch den Kopf?“
Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn sieht die Verantwortung des Zwischenfalls im polnischen Grenzgebiet zur Ukraine ebenfalls bei der russischen Führung, die den Krieg in der Ukraine führt. Die Ukrainer würden „ja nicht mit Abwehrraketen“ schießen, „wenn die Russen nicht zuerst ihre Raketen abfeuern“. Asselborn verwies darauf, dass der Vorfall genau geprüft werde und insbesondere die NATO-Staaten mit ihren Reaktionen auf dem Boden der Tatsachen blieben. Er fragt sich hingegen: „Was geht Putin nur durch den Kopf?“, wenn er die zivile Infrastruktur, wie etwa Elektrizitätswerke, für Millionen Menschen in der Ukraine ins Visier nimmt. „Dieser Krieg ist für die Russen verloren und ich weiß nicht, wie viele Menschenopfer noch notwendig sind, dass er das einsieht“, sagte Jean Asselborn gegenüber dem Tageblatt.
De Maart
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