LuxFilmFestPlakativer Provokateur? – Warum das Kino von Gaspar Noé weit mehr ist

LuxFilmFest / Plakativer Provokateur? – Warum das Kino von Gaspar Noé weit mehr ist
Mehr als nur Schockeffekte und Provokation: Der umstrittene Regisseur befindet sich zurzeit in Luxemburg Foto: AFP/Loïc Venance

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Im Rahmen einer Masterclass während des am Donnerstag eröffneten Luxembourg City Film Festival wird der in Frankreich tätige Filmregisseur mit argentinischen Wurzeln Gaspar Noé seine Regiekarriere Revue passieren lassen. Die hauptstädtische Cinémathèque bietet in Begleitung dazu eine Retrospektive seiner Filme an. Eine Gelegenheit, das Werk dieses äußerst radikalen, transgressiven Regisseurs, den man häufig auf einen plakativen Skandalfilmemacher reduziert hat, näher zu besprechen.

Von Anfang an waren Noés Filme ein Ausdruck einer sehr beklemmenden Weltsicht, die zuvorderst nur aus brachialer Gewalt und Sexualität zu bestehen schien. Noés erster Kurzfilm „Carné“ fand 1991 besondere Aufmerksamkeit, weil er die verstörenden Bilder bereits enthält, die er 1998 mit „Seul contre tous“ 1998 wieder aufgriff, diesmal in Form seines ersten Langspielfilms. Wieder besetzte er in der Rolle eines Pferdeschlachters den Schauspieler Philippe Nahon. Da, wo der französische Filmtitel die Stellung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft betont, trifft der deutsche Verleihtitel, „Menschenfeind“, die Erzählung des Films nochmals schärfer. Es geht um den misanthropen Fleischer, der im Voice-over-Kommentar seine Haltung darlegt; diese überaus monotonen und beklemmenden Aussagen kulminieren in der Tat, die für ihn die Erlösung aus einer verkommenen Welt bedeutet: Der Metzger vergewaltigt seine eigene Tochter, erschießt sie und richtet sich dann selbst hin.

Die filmkritische Opposition, die sich gleich beim Erscheinen dieses Films formierte, war mitunter vernichtend: Für manch einen galt Noé nun – lapidar gesagt – als ein Schmutzfink, der allzu sensationalistisch operiert und nur auf oberflächlich-provokative Schockeffekte aus sei. Das ist nun wirklich zu kurz gedacht. Dass Noés Weltanschauung eine zutiefst anthropozentrische ist, wurde bereits mit „Seul contre tous“ deutlich, aber die überaus verstörend-brutale Gewaltdarstellung und die scheinbar nihilistische Gleichgültigkeit, mit der Noé all dies beschaute, verstellte bereits damals den Blick auf den tieferen Humanismus seiner Filmvisionen.

„Neue Französische Härte“

Mit dem Begriff der „Neuen Französische Härte“ wurde versucht, dem Kino von Noé beizukommen – als ein gegenwartsbezogenes Kino der sozialkritischen Sujets. Mathieu Kassovitz’ „La Haine“ (1995) ist da ein weiteres prominentes Beispiel. Neben seinem Kollegen Philippe Grandrieux, der indes in seiner Drastik noch viel weiter geht, gilt Noé als der maßgebliche Vertreter dieser neuartigen Modernisierungstendenz des französischen Kinos. Den Werken dieser Strömung ist eines gemein: Sie alle zeichnet der Versuch aus, eine neue Filmsprache in der Grenzerfahrung zu suchen, mithin tiefgreifende filmtheoretische Fragestellungen zu formulieren: Wie weit darf das filmische Bild gehen?

Ein wahrhafter Eklat folgte aber erst bei den Filmfestspielen in Cannes, wo sein nächster Film, „Irréversible“, 2002 uraufgeführt wurde. „Irréversible“ wird auch heute noch mitunter als ein fatalistischer Film rezipiert, der von hinten nach vorn abläuft, die Ereignisse aus nur einer Nacht schildernd und in dessen Zentrum eine neunminütige, ungebrochene Vergewaltigungsszene von selten gesehener Brutalität steht. Mit untersichtiger, statischer Kamera werden wir dabei in die stille Beobachterposition dieser destruktiven Triebtat gezwängt, die überdies aus dem Klassenunterschied erwächst – es ist der Neid, das materielle Gefälle, das die Gewalttat auslöst. Der eine Gewaltakt bringt den nächsten mit sich. Um den Tod seiner Freundin Alex (Monica Bellucci) zu rächen, unternimmt Marcus (Vincent Cassel) einen unnachgiebigen Streifzug durch das Rotlichtmilieu von Paris.

Ich will ja keinen moralischen Standpunkt einnehmen, sondern einen menschlichen

Gaspar Noé, Regisseur

Seine beklemmende Wirkung bezieht „Irréversible“ auch heute noch aus der eindringlichen Erzeugung eines Effekts des körperlichen Mitvollzugs – eine Grenzerfahrung, die beim Sehen wehtun soll. Die Rache, die sich im Laufe des Films entfaltet, steht ganz im Zeichen einer brachialen Form des Gerechtigkeitssinns. „Irréversible“ zeigt auf überaus verstörende Weise, wie nahe Liebe, Lust, Verlangen und Wut beieinanderliegen. Die Rottöne in der Farbgebung und Beleuchtung des Films akzentuieren diesen Umstand entlang des gesamten Handlungsverlaufs. Überhaupt ist Rot die Leitfarbe in Noés Kino, die Liebe und die Wut gleichermaßen betonend. Aber nicht nur die Farben sind bezeichnend dafür, wie Noé innerfilmische Konstellationen in seinem Werk schafft: Der Metzger aus „Seul contre tous“ hat einen Kurzauftritt in der Anfangsszene von „Irréversible“; der Schauspieler stiftet eine direkte Verbindung zwischen den Filmen, die Ausdruck der allumfassend (in-)humanistischen Weltsicht Noés ist.

Hinter jedem Menschen steht ein Schicksal, nur beleuchtet Noé auch die dunkelsten seiner Abgründe. Mit „Enter the Void“ verlagerte Noé diese filmästhetische Programmatik hin zu einer Wahrnehmungswelt, die der menschlichen komplett losgelöst scheint: Aus der Sicht eines just bei einer Drogenrazzia verstorbenen, drogenabhängigen Mannes erzählt dieser Film von seiner Seelenreise, die sich auf der Schwelle zwischen dem irdischen und dem Totenreich bewegt, und versucht, zu seiner Schwester Kontakt aufzunehmen – entsprechend dominiert da die obersichtige Kameraposition als maßgebliches Stilmittel. Der Kamerablick ist der Standpunkt der menschlichen Seele, mithin zeigt sich noch deutlicher als in „Irréversible“, wie sehr die Erzählweise Noés in die Form eingelagert ist: Seine Kamerafahrten sind mitunter chaotisch und überaus sinnlich belastend; sie wühlen mehr auf, als sie mildern. Diese turbulente und dynamische Formsprache macht aus „Enter the Void“ eine höchst meditative Reflexion über den Tod in äußerst spirituell aufgeladenen Bildern, der Verweis auf das tibetanische Totenbuch ist da bestimmend.

Der Anthropozentriker

In Bezug auf die Kontroversen, die seine Filme auslösen, versuchte Noé sich im Nachhinein zu erklären: „Ich will ja keinen moralischen Standpunkt einnehmen, sondern einen menschlichen“, meinte er in einem Interview, und damit ist nun wohl ein fruchtbarer Zugangspunkt zu seinem Werk getroffen: Noé ist ein anthropozentrischer Filmemacher, insofern er einen menschlich-individualistischen Blick auf die Welt wirft, deshalb ist der subjektivierte Blick in seinen Filmen so überaus bedeutsam. Wenn man diesen Zugangsversuch konsequent ablehnt, weil man a priori eine moralische Position in den Filmen erwartet, kann man Noés Werk nicht habhaft werden. Seine Filme sind allumfassend anthropozentrisch, in dem Sinne, dass sie den Menschen mit all seiner Lebenslust und seiner Kreatürlichkeit in den Mittelpunkt des Erzählens setzen.

Die destruktiven Züge des menschlichen Triebs schließen bei Noé auch eine anti-natalistische Haltung in sich ein: In „Seul contre tous“ schlägt der Fleischer in den Leib einer schwangeren Frau – eine Szene, die in Noés Horrormusical „Climax“ (2018) wiederholt wird. In „Irréversible“ wird eine schwangere Frau vergewaltigt. So sehr sein Kino auch die lebensverneinenden Triebe auf der einen Seite abbildet, so überaus lebensbejahend sind sie auf der anderen: „Love“ von 2015 schildert überwiegend in Rückblenden ein leidenschaftliches Dreiecksverhältnis, ein „amour fou“, das sich zuvorderst in expliziten Sexszenen entfaltet; eine rauschhafte Liebe, die, wie immer bei Noé, blitzartig in rasende Wut umschlagen kann.

„Vortex“ (2019) fokussierte mehr den Menschen im hohen Lebensalter: Erzählt wird von einem alten Ehepaar, das zur Einsicht kommt, dass jeder für sich allein sterben muss. Dem altersbedingten Verfall und der Unausweichlichkeit des Todes gilt hier das Hauptaugenmerk. Während die Frau an einer immer schneller voranschreitenden Demenz leidet, versucht der Mann, den Alltag aufrechtzuerhalten, erkennt jedoch, dass man in der Zweisamkeit doch allein sein kann. Dafür hat Noé mit dem Splitscreen ein vortreffliches filmsprachliches Übertragungsmittel gefunden. Vielleicht sollte man von dem Schlagwort des „Provokateurs“ und des „Skandalfilmemachers“ absehen und Verbindungen zu Courbet oder Modigliani suchen? In allen Fällen ist dieser spezifischen Kombination aus Radikalität und tiefer Menschlichkeit, die Gaspar Noés verstörende Transgressionen ausmachen, im gegenwärtigen Kino kaum etwas an die Seite zu stellen.

Beim LuxFilmFest

Die Masterclass am 9. März ist bereits komplett ausgebucht. Im Rahmen der Retrospektive von Gaspar Noés Werk werden folgende Filme in der Cinémathèque gezeigt: „Seul contre tous“ (4. März um 14.00 Uhr), „Climax“ (5. März um 14.00 Uhr), „Vortex“ (5. März um 16.00 Uhr), „Love“ (6. März um 14.00 Uhr) und „Enter the Void“ (7. März um 14.00 Uhr). „Irréversible“ ist am 18. April um 18.30 und 20.30 Uhr vorgesehen.