Die Dämmerung senkt sich über den Kirchturm von Maroslele. Gespannte Aufbruchstimmung macht sich hingegen in der gelb gestrichenen Bibliothek des 2.000 Seelen zählenden Dorfs in Ungarns Dreiländereck mit Rumänien und Serbien breit. „Vor vier Jahren waren wir geteilt, hatten auch in diesem Wahlkreis einen rechten und einen linken Oppositionskandidaten – und keine Chance“, erinnert die Oppositionshoffnung Peter Marki-Zay sein Publikum an Ungarns letzte Parlamentswahl: „Nun haben rechts und links ihre Kräfte geeint – und gibt es eine Chance auf den Wechsel.“
Maskierte Wahlhelferinnen verteilen Teebeutel und Kugelschreiber mit dem Antlitz und Namen ihres Hoffnungsträgers. Der Wahlkreis IV im südungarischen Distrikt Csongrad sei einer von „fünf, sechs Wahlkreisen“, die für den Ausgang von Ungarns Parlamentswahl am 3. April entscheidend sein dürften, berichtet der regionale Wahlkampfkoordinator der Opposition, Ferenc Csanadi: „Und das Wahlergebnis in diesem Dorf könnte über die Vergabe des Direktmandats entscheiden.“
Die Mission Machtwechsel führt über Maroslele. Über den Köpfen der rund 60 Zuhörer auf den voll besetzten Stühlen der Dorfbibliothek baumeln Plüschtiere in selbstgebastelten Fesselballons im Höhenflug. Darunter rechnet der Mann mit dem Mikrofon mit der seit 2010 amtierenden Regierung der nationalpopulistischen Fidesz-Partei von Premier Viktor Orban ab.
Die Partei verteilt Ländereien, Jagdreviere, Firmen, Villen, Weingüter, einfach alles. Die Partei entscheidet, wer Krankenhaus- oder Schuldirektor wird.
Auch wegen des Einparteiensystems im „Orban-Staat“ sei Ungarn zum „korruptesten Land Europas“ geworden, klagt der 49-jährige Herausforderer des dienstältesten Regierungschefs in Europa: „Die Partei verteilt Ländereien, Jagdreviere, Firmen, Villen, Weingüter, einfach alles. Die Partei entscheidet, wer Krankenhaus- oder Schuldirektor wird.“ Während Angehörige und Vertraute des Premiers mehr Reichtümer „als die Königin von England“ angehäuft hätten, lebe ein Großteil der Bevölkerung unter der Armutsgrenze und hätten 800.000 Ungarn ihr Land verlassen: „Wir haben schon vor 1990 erlebt, wohin es führt, wenn nur eine Partei das Sagen hat, wenn Propaganda die freie Presse ersetzt und wenige Privilegierte alles erhalten. Das Einparteiensystem ist schädlich und nicht das, was wir für Ungarns Zukunft wollen.“
Als „Europas wichtigste Wahl des Jahres“ bezeichnet die Financial Times Ungarns mit Spannung erwarteten Urnengang. Tatsächlich verheißen die Prognosen trotz eines leichten Umfragevorsprungs für die regierende Fidesz-Partei und Orban ein knappes Rennen: Als keineswegs chancenloser Außenseiter hofft der Kleinstadt-Bürgermeister Marki-Zay, den dienstältesten Regierungschef in der EU mit der Waffe seines auf Fidesz zugeschnittenen Wahlsystems zu schlagen.
Wahlsystem zugunsten von Fidesz
Kurz nach seiner Rückkehr auf die Regierungsbank 2010 hatte Orban eine Wahlrechtsreform erwirkt, die seiner Fidesz-Partei langfristig den Machterhalt sichern sollte. Das seit 2011 gültige Wahlsystem ist eine Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahl. Nur 93 von 199 Abgeordnetensitzen im Parlament werden noch nach den Stimmanteilen der Parteien vergeben. Die 106 Direktmandate gehen an die stärkste Partei in den jeweiligen Wahlkreisen. Von dem System profitiert die größte Partei: Obwohl Fidesz bei der Wahl 2018 mit 49,3 Prozent die Stimmen-Mehrheit verfehlte, errang sie eine Zweidrittelmehrheit der Sitze.
Es war der parteilose Marki-Zay, der 2018 mit seiner Wahl zum Bürgermeister der Provinzstadt Hodmezövasarhely der zersplitterten Opposition einen erfolgreichen Weg aus Orbans Wahlzwickmühle wies. Bis dahin hatte die Stadt als Fidesz-Hochburg gegolten. Aus Ermangelung an besseren Kandidaten unterstützen alle Oppositionsparteien von den Sozialisten bis hin zur rechtsnationalen Jobbik-Partei den unabhängigen Konservativen. Das in der Provinz erprobte Erfolgsrezept wiederholte die Opposition in der Hauptstadt: Mit Unterstützung aller Oppositionsparteien luchste der grünalternative Kandidat Gergely Karacsony 2019 Fidesz das Rathaus in Budapest ab.
Auch bei der bevorstehenden Parlamentswahl hofft die Opposition, mit Hilfe ihres gemeinsamen Zweckbündnisses die Vorherrschaft des autoritär gestrickten Orban endlich zu brechen. Sechs Oppositionsparteien traten im letzten Jahr bei den landesweiten Vorwahlen an, bei denen nicht nur die aussichtsreichsten Kandidaten in den 106 Wahlkreisen, sondern auch der gemeinsame Spitzenkandidat gekürt wurde: Nach dem Rückzug von Favorit Karacsony setzte sich Provinzbürgermeister Marki-Zay auch ohne eigene Hausmacht etwas überraschend gegen die linke Europa-Abgeordnete Karla Dobrev (DK) durch.
„Niemand kann die Einheit der Opposition aufbrechen. Wir können nur gemeinsam gewinnen“, verkündete Marki-Zay nach seinem Etappensieg im Oktober. Doch nach dem hart geführten Stimmenstreit der Vorwahlen traten in dem oppositionellen Parteienpakt bald auch Risse auf.
Fidesz gegen Öffnung der Stasi-Archive
Manche Oppositionsparteien hätten Marki-Zay nur „mit halben Herzen akzeptiert“, konstatierte das Budapester Institut „Political Capital“ in seiner im Januar veröffentlichten Vorwahlanalyse. Außer der verpassten Chance, die Dynamik der unerwartet stark frequentierten Vorwahlen zu nutzen, sieht das Institut auch bei deren mangelhaften Organisation auf dem Land einen Schwachpunkt der Opposition: Dennoch seien deren Chancen wegen der gemeinsamen Kandidatenkür „deutlich besser als vor den Wahlen 2014 und 2018“.
Wir haben schon vor 1990 erlebt, wohin es führt, wenn nur eine Partei das Sagen hat, wenn Propaganda die freie Presse ersetzt und wenige Privilegierte alles erhalten
Tatsächlich fällt es der PR-Maschinerie von Fidesz schwer, den siebenfachen Familienvater, Katholik und früheren Orban-Wähler Marki-Zay mit ihren gängigen Vorwürfen als verkappten Kommunisten, Förderer der Homosexualität oder Schützling des verketzterten US-Philanthropen George Soros zu überziehen. Der frühere Soros-Stipendiat Orban sei als einstiges Mitglied der kommunistischen Jugendorganisation „selbst Kommunist“ gewesen, ätzt in seinem Wahlkreis in Maroslele sein Herausforderer. Fidesz sei zudem die einzige Partei, die sich wegen der großen Zahl der früheren Agenten in ihren Reihen noch immer der Öffnung von Ungarns Stasi-Archiven widersetze: „Alles, was Fidesz uns fälschlicherweise vorwirft, hat sie selbst getan.“
Die Dunkelheit hat sich längst über die Hauptstraße von Maroslele gesenkt, als der Kandidat in der Dorfbibliothek jeden seiner Zuhörer per Handschlag verabschiedet. Ungarn müsse „die negative Spirale“ durchbrechen, in der das Land in der Orban-Ära geraten sei, so die Botschaft ihres Hoffnungsträgers: „Wir haben eine Chance. Wir haben die Chance, Orban zu schlagen.“
De Maart
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