EditorialNoch ein weiter Weg zu einer europäischen Armee

Editorial / Noch ein weiter Weg zu einer europäischen Armee
Deutsche Soldaten vergangene Woche bei der Militärübung „Nordic Response“: Mit einer Großübung trainieren NATO-Partner im Norden Europas die Abwehr eines Angriffs auf das Bündnisgebiet Foto: Heiko Junge/NTB Scanpix/AP/dpa

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Donald Trump hat mit seiner Androhung, dass er im Fall seiner Wiederwahl nicht mehr unter allen Umständen die europäische Sicherheit garantieren werde, die Debatte über eine eigenständige europäische Verteidigungspolitik befeuert. Bereits vor seiner Vereidigung als US-Präsident im Januar 2017 hatte er die NATO als „obsolet“ bezeichnet. Damit hatte er das Beistandsversprechen, das besagt, wonach ein Angriff auf einen Alliierten ein Angriff auf das gesamte transatlantische Bündnis ist, infrage gestellt – und so auch die Gewissheit, dass die Amerikaner bereit sind, mit ihren Waffen Europa zu schützen.

Dabei ist die Diskussion über eine gemeinsame europäische Armee und eine strategische Autonomie Europas alles andere als neu: Schon vor 70 Jahren sollte die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) ins Leben gerufen werden, doch scheiterten die ambitionierten Pläne am 30. August 1954 in der französischen Nationalversammlung. Vor allem in den vergangenen zwei Jahrzehnten haben die Europäer ihre militärische Zusammenarbeit verstärkt. Die Europäische Union hat seit 2003 mit den von ihren Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellten Soldaten mehr als 30 zivile und militärische Missionen der seit 1999 bestehenden Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) durchgeführt. 2004 wurde die Europäische Verteidigungsagentur (EVA) gegründet.

Wird die EU deshalb zur Verteidigungsunion? Erinnert sei an die Reformvorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der im September 2017 von einer „Europe qui protège“ sprach. Im selben Monat forderte der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker eine „funktionierende Europäische Verteidigungsunion“ bis 2025. Im Dezember 2017 einigten sich die EU-Verteidigungsminister auf mehrere Projekte: eine „Permanent Structured Cooperation“ (Pesco) für Rüstungsprojekte, eine „Coordinated Annual Review on Defence“ (CARD), einen jährlichen Bericht über die europäische Verteidigung inklusive Empfehlungen sowie einen Europäischen Verteidigungsfonds, aus dem gemeinsame Rüstungsforschung finanziert werden soll. Schon im Juni 2016 hatte die EU mit der „Globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik“ (EUGS) einen normativen Rahmen für die Ausrichtung der GSVP geschaffen, um auf globale politische Veränderungen zu reagieren, etwa auf die zunehmende Aggressivität Russlands.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 markiert eine tiefe Zäsur in der jüngeren Geschichte Europas. Russlands Präsident Wladimir Putin will das Nachbarland zum abhängigen Vasallenstaat degradieren, sein Verteidigungsminister Sergej Schoigu bekräftigte kürzlich das Ziel, „den Feind unter allen Umständen zu vernichten“. Das Blatt hat sich nach dem Scheitern der ursprünglich geplanten schnellen Eroberung und den ukrainischen Rückeroberungen wieder gewendet. Die Gegenoffensive der Ukraine ist misslungen, zum Jahresbeginn vermeldete die ukrainische Armee Munitionsknappheit. Und sollte Donald Trump wieder ins Weiße Haus einziehen, würde die Ukraine mit Joe Biden ihren wichtigsten Unterstützer verlieren.

Umso mehr muss Europa Kiew militärisch unterstützen. Auf dem Spiel steht nicht nur die Ukraine, sondern auch die europäische Friedensordnung. Um die Gefahr eines größeren Krieges zu mindern, muss Europa verteidigungsfähig sein – oder wie es der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius ausdrückte: „Die Formel lautet, Krieg führen zu können, um keinen Krieg führen zu müssen.“ Dagegen sind die Äußerungen Macrons, dass man die Entsendung von Bodentruppen nicht ausschließen dürfe, eher kontraproduktiv. Der eigenen Verteidigungsfähigkeit kommt Europa damit keinen Schritt näher.