Platte der WocheNo more Mr. Nice Guy: „Hugo“ von Loyle Carner

Platte der Woche / No more Mr. Nice Guy: „Hugo“ von Loyle Carner
 (C) Sirus Gahan

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Loyle Carner ist auf der Insel schon lange kein Unbekannter mehr. Mit seinem zweiten Album „Not Waving, But Drowning“ fand er sich im Frühjahr 2019 in den Top drei der UK-Albumcharts wieder. Der mittlerweile 28-jährige Rapper aus dem Süden hat vor kurzem sein drittes Album „Hugo“ veröffentlicht. Das dürfte mit zum Besten zählen, was in diesem Jahr im Genre Hip-Hop veröffentlicht worden ist.

Denn er ist keiner dieser dumpfen Bling-Bling-Rapper oder braucht den Autotune-Effekt, um auf sich aufmerksam zu machen. Er überzeugt mit seiner Stimme, seinen klischeefreien Texten und seiner organischen Musik, die nicht ansatzweise beliebig ist.

Carner hatte in seinen jungen Jahren schon einige Schicksalsschläge erleben müssen. Das hat ihn allerdings nicht aus der Bahn geworfen, sondern ihm eine noch klarere Vision beschert von dem, was er, der unter ADHS und Dyslexie leidet, aus seinem Leben machen will: ein versierter Künstler mit Tiefgang zu sein.

Er wurde 1994 in Lambeth, London, unter dem bürgerlichen Namen Benjamin Gerard Coyle-Larner geboren und wuchs mit seiner Mutter, einer Lehrerin für Kinder mit Lernschwierigkeiten, seinem Stiefvater und seinem jüngeren Bruder in South Croydon auf. Sein erstes Gedicht schrieb er mit sieben Jahren, nachdem sein bester Freund an Leukämie verstorben war.

Später studierte der Fan der Rapper Nas und Common an der Brit School Schauspiel. Doch als 2014 sein Stiefvater, ebenfalls Musiker, nach einem epilepsiebedingten Anfall verstarb, machte er sich Sorgen um seine Mutter, verließ die Universität und suchte sein Glück in der Musik.

Wichtig war ihm dabei, Musik mit Inhalt zu füllen: „Von klein auf wurde mir unterbewusst eingetrichtert, dass Musik eine Geschichte haben muss“, erklärte er 2017 in einem Interview mit dem Evening Standard. Er stand schon auf der BBC-Longlist vielversprechender Newcomer („BBC Sound Of 2016“), bevor im Januar 2017 sein Debütalbum „Yesterday’s Gone“ veröffentlicht wurde. Das wiederum kürte der Independent später zum „Album des Jahres“.

Sein erster großer Wurf gelang ihm dann im April 2019 mit seinem zweiten Album „Not Waving, But Drowning“. Aber darauf hatte er noch nicht sein ganzes Potenzial ausgeschöpft. Denn was er jetzt auf „Hugo“ präsentiert, verschlägt einem den Atem.

Der Lockdown mit seiner Tristesse ohne Konzerte, Festivalauftritte oder andere Businesstermine brach ihn nicht: Er bescherte ihm eine gewisse Klarheit, wie er sagt. Dies hatte Einfluss auf den Entstehungsprozess des Albums. Das wird von seiner Plattenfirma als „eine berührende Sammlung von Poesie und Geschichten über Familie, Identität und Gesellschaft, über Hoffnung im Angesicht des Schmerzes“ vermarktet.

Vom ersten Ton an ist zu spüren, wie viele Liebe und Seele in diesen Songs stecken. Sie wurden nicht auf die Schnelle mit ein paar Computerprogrammen zusammengeflickt. Carner, der mittlerweile selbst Vater ist, und sein Stammproduzent Kwes greifen auf traditionelle Instrumente zurück: neben Bass, Gitarre und Schlagzeug auch Klavier, Streicher und Bläser.

Sein Hip-Hop zitiert Soul, Gospel, Jazz und Progrock und versprüht dadurch einen Old-School-Charme. Das macht „Hugo“ aus musikalischer Sicht schon zu einem außergewöhnlichen Werk. Hinzu kommen die Texte. „Georgetown“ wurde von Otis Jackson Jr. alias Madlib produziert. Die Stimmung, die dessen dezente Beats erzeugen, ist eine melancholische. Bevor diese einsetzen, ist der aus Guyana stammende Poet John Agard zu hören, der Auszüge aus seinem Gedicht „Half-Caste“ vorträgt.

Besagtes Gedicht hatte Carner, dessen leiblicher Vater ebenfalls aus Guyana stammt, maßgeblich beeindruckt: „Jemanden zu sehen, der älter war und wie ich aussah und der eine ähnliche Lebenserfahrung mit mir teilte, gab mir das Gefühl, dass ich mich wohl und stolz fühlte, nicht dazuzugehören. Das gab mir die Erlaubnis, endlich explizit darüber zu schreiben, dass ich ‚gemischt‘ bin. Es gibt so viel Schönheit in den Lücken dazwischen, und in gewisser Weise berührt dieses Lied das. Für mich geht es darum, dieses innere Selbstvertrauen durch Selbsterkenntnis zu finden und Zeit zu Hause zu verbringen. Es geht darum, sich endlich als eine ganze Person zu fühlen, anstatt wie zwei Hälften“, erklärte er dem New Musical Express.

Auch in den anderen Songs steckt viel Melancholie, aber auch unterschwellige Wut über den Rassismus, den er teils erleben musste. In dem wortgewaltigen Hit „Hate“, den er in einem wütenden Zustand geschrieben hatte, heißt es: „I fear the color of my kin/I still feel the color that’s within.“

Rasse, Herkunft und wo er steht – das sind die Themen seiner Songs. In „Nobody Knows (Ladas Road)“ geht es darum, zugleich „schwarz und weiß“ zu sein; er singt, begleitet von Gospelgesängen: „I told the black man, he didn’t understand/Reached the white man, he wouldn’t take my hand.“ Bei all der Rassenthematik wirkt er stets erstaunlich besonnen und beherrscht. Bisher galt er noch auf der Insel als der „Mr. Nice Guy“ des UK-Hip-Hop. Diese Sichtweise wird sich jetzt bestimmt ändern: Carner zeigt auf „Hugo“ eine persönlichere, nachdenklichere, betrübtere und auch wütendere Seite von sich.

Anspieltipps: Hate, Nobody Knows (Ladas Road), Pollyfilla