Am Anfang ist das Seufzen. Und dieses Seufzen kommt von Nick Cave. „Haaaaaaaach.“ Der Klang hallt über die stillen Ränge des Grand Auditoriums der Philharmonie. Cave, wie immer in Anzug und Krawatte, hat sich gerade auf der Bank vor dem Flügel auf der Bühne niedergelassen. Tausend Menschen halten den Atem an. Einer atmet aus. Dann beginnt er: „Some go and some stay behind, some never move at all.“ Es sind die ersten Takte von „Girl in Amber“ und die Spannung, die den Raum ergriffen hat, sie löst sich nicht in einem kathartischen Moment – sie zerfließt einfach zwischen den tröpfelnden Pianoklängen.
Überhaupt – wann hat man schon einmal solch ein ergriffenes Publikum bei einem Konzert erlebt, das trotz des hochkulturellen Veranstaltungsorts doch definitiv in die Kategorie Unterhaltungsmusik – und damit Pop im weitesten Sinne – fällt? Die Philharmonie gleicht in den Minuten vor dem initialen Seufzer einer Gemeinde, die auf den Beginn des Gottesdienstes wartet. Noch bevor das Licht dimmt oder irgendein anderes Zeichen den Beginn des Konzertes markieren könnte, verstummen die Menschen auf den Rängen urplötzlich in einer andächtigen Gruppendynamik – und verharren minutenlang in dieser Kirchenstimmung.
Die beiden Luxemburger Konzerte am Mittwoch- und Donnerstagabend in der Philharmonie sind die letzten beiden der aktuellen Tour, ein „working man’s holiday“, wie Cave sie selbst nennt, eine kleine Tour durch Europas Hochkulturhäuser, um die Sommerpause der aktuellen Bad-Seeds-Tour zu überbrücken. Begleitet wird Cave auf dieser Sommerreise von Colin Greenwood am Bass, zusammen mit seinem Bruder Johnny Teil der britischen Band Radiohead, die im Herbst selbst auf ihre erste Europatour seit sieben Jahren gehen wird. „I’m lending him back to Radiohead“, scherzt Cave an einer Stelle. Die beiden mittelalten Herren haben sich auf ihrer gemeinsamen Reise eine beeindruckende Arbeitsbeziehung erspielt, die beinahe ausschließlich auf Augenkontakt basiert. Den Ton gibt selbstverständlich Cave an, Greenwood, Vorbild-Bassist, der er ist, in jedem Moment bedacht auf die Unterstützung der Leadinstrumente, in diesem Fall Caves Stimme und Spiel. Die meiste Zeit hält er sich im Halbschatten des Bühnenrands auf, manchmal verschwindet er gar ganz in der Dunkelheit. Nur im verspielten Finale gibt er ein kurzes Solo zum Besten.
Songs wie Wunder, immer weniger wird immer mehr
Es ist Cave selbst, der dem Publikum gleich zu Beginn seine Mission erklärt. Es gehe ihm darum, seine Songs „von den Bad Seeds zurückzunehmen“. Eine Wiedervorlage vor allem seines jüngsten Schaffens der vergangenen 30 Jahre also. „Ein Teil der verletzlichen Wahrheit geht verloren, wenn die Band sich auf sie stürzt.“ Er wolle die „Essenz“ freilegen, die noch immer in den Songs stecke. Man muss sich Cave am Flügel also als einen Destillateur vorstellen, der sein Werk an diesem Abend so lange runterkocht, bis nur noch dessen reiner Geist übrig ist.
Ein denkbar einfaches Konzept, mit dem man als Zuschauer zu Beginn dennoch ein bisschen fremdelt – vor allem bei Songs, die einem in ihrer ganzen Bad-Seeds-Band-Wuchtigkeit so vertraut sind. Die reduzierten Zwei-Mann-Versionen von „Higgs Boson Blues“ (vom 2013er-Album „Push The Sky Away“) und „Jesus of the Moon“ (vom Vorgänger „Dig, Lazarus, Dig!!!“) sind interessant, entwickeln aber weder den Sog noch die Intensität der Originale. Jeder Skeptiker wird jedoch nur Minuten später eines Besseren belehrt. Denn Caves Destillat funktioniert paradoxerweise dort am eindrücklichsten, wo schon die Originalversionen reduziert waren.
Eine gute Dreiviertelstunde ist vergangen, als Nick Cave zu „Skeleton Tree“ zurückkehrt, jenem Album, das 2016 ganz im Zeichen des Unfalltods seines damals 15-jährigen Sohns Arthur stand. Er habe diesen Song viele Jahre nicht spielen können, sagt Cave, zu düster sei er. Doch heute sehe er einen Hoffnungsschimmer in der Dunkelheit dieses Songs. Was folgt, ist eine Interpretation von „I Need You“, die nichts weniger als ein Wunder ist. Ein Song, schon in der Bad-Seeds-Version nur von einem sanften Schlagzeug und Warren Ellis’ Synthesizer begleitet, zieht sich ganz auf das repetitive Pianospiel und Caves mantrahafte Lyrik zurück. „Cause nothing really matters / I need you.“ Immer und immer wieder. Der Song schrumpft und dehnt sich dennoch immer weiter aus. Eine physikalische Unmöglichkeit. Immer weniger wird immer mehr. Das Licht im Saal schwindet, bald ist Cave fast ganz von Dunkelheit umhüllt. Doch die Wärme seines Baritons kriecht die Ränge hoch, umhüllt bald den gesamten Raum. Es wird dunkel. „Just breathe, just breathe“, flüstert Cave, ebenso zu sich selbst wie zum Publikum.
Nick Cave gelingt an diesem Abend etwas sehr Seltenes. Er schafft auf der Bühne der Philharmonie in einem Moment eine nahezu transzendierende Atmosphäre, nur um im nächsten dann schon wieder in ein angeregtes Plauschen mit dem Publikum zu verfallen. Cave, der auch sonst nie den Kontakt zu seinen Fans scheut (man denke an seinen Ask-me-anything-Blog „The Red Hand Files“), spricht an diesem Abend über die Entstehungsgeschichte hinter einigen Songs, über seine Einflüsse und Inspirationen. Er covert zwei seiner größten Helden: Leonard Cohens „The Avalanche“ und Marc Bolans „Cosmic Dancer“.

Das Faszinierende ist: All diese Erklärungen entzaubern die Songs nicht. Normalerweise verliert man den Appetit, wenn man weiß, wie die Wurst gemacht wird. Nicht bei Cave. Seine Lyrik strahlt nur noch mysteriöser, seine musikalische Inszenierung noch sphärischer. Seine Songs lassen sich nicht einfangen und rationalisieren, sie fransen an jedem Ende auf und verknüpfen sich mit ihren Hörern. Eigentlich müsste sich Cave in alldem verlieren, alleine auf dieser großen Bühne, im Lichtkegel der Scheinwerfer – mit nichts als einem Flügel und seiner Stimme und dem warmen Pluckern von Colin Greenwoods Bass. Aber das Gegenteil ist der Fall: Mit jeder Minute, die verstreicht, breitet sich Cave weiter aus. „Joy“ und „Cinnamon Horses“ vom jüngsten Album „Wild God“ führen den Blues ins Licht. Sein Klassiker „The Mercy Seat“ wird zur ekstatischen Erfahrung.
Man will bei der Beschreibung von Nick Caves Musik und Wirken immerzu auf religiöse Methapern zurückgreifen. Das ist auch unter den großen Orgelpfeifen der Philharmonie so. Natürlich ist das im Werk und seinen Texten selbst angelegt. Caves Songs handeln vom Tod, vom Verlust, vom Leiden als Gewissheit des Lebens. Er hat in seiner Biografie vieles davon am eigenen Leib erfahren. Die Verlorenheit, die Drogensucht, den Tod zweier Söhne. Cave ist ein Gläubiger, wenn auch für ihn die Suche und der Zweifel zum Wesen des Glaubens selbst gehören. Und so kann man an diesem Abend auf der Bühne der Philharmonie einem Mann zuschauen, der sich in seiner Kunst radikal preisgibt, seine eigene Dunkelheit zeigt – aber auch den aufblitzenden Funken des Lichts.
Nach knapp zwei Stunden kehrt Nick Cave zur Zugabe zurück. Er hat die dunkle Nacht der Seele durchschritten, das Publikum mit ihm, der Fährmann ist am Ende angekommen. „I danced myself right out the womb.“ Cave singt Bolan. Der Bann ist gebrochen, die Leute verlassen ihre Plätze und strömen nach vorne. „Are You the One That I’ve Been Waiting For?“ und „Into My Arms“, am Ende gibt es erhabenen Kitsch vom Album „The Boatman’s Call“. Die Liebe erobert alles, völlig egal, ob das nun stimmt oder ob man es einfach nur glauben will. Der ganze Saal singt mit: „Into my arms, oh Lord.“ Aus dem einsamen Seufzer in der Dunkelheit ist ein Chor aus Hunderten Stimmen geworden.
De Maart

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