GroßbritannienNeuer Einwanderungsrekord: Konservative Regierung kann Versprechen nicht halten

Großbritannien / Neuer Einwanderungsrekord: Konservative Regierung kann Versprechen nicht halten
Premierminister Rishi Sunak (l.) und die britische Innenministerin Suella Braverman, beide mit Migrationshintergrund, wollen die Migration ins Vereinigte Königreich einschränken Foto: Jessica Taylor/UK Parliament/AFP

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Längst vor der Veröffentlichung einer neuen Statistik an diesem Donnerstag steht die Immigration im Mittelpunkt der britischen Politik.

Weil die Netto-Einwanderung im vergangenen Jahr eine neue Rekordmarke von mehr als 700.000 Menschen erreicht hat, versucht die Brexit-Regierung unter Premier Rishi Sunak verzweifelt, dem Eindruck entgegenzusteuern, sie habe die Kontrolle über die Grenzen verloren. Die konservative Regierungspartei habe „wieder und wieder weniger Einwanderung versprochen und alle Versprechen gebrochen“, höhnt Labour-Oppositionsführer Keir Starmer.

Offiziell tritt das hochrespektierte Statistikamt ONS erst an diesem Donnerstag mit den Jahreszahlen an die Öffentlichkeit. Unter den einschlägigen Fachleuten gibt es aber keine Zweifel, dass die Marke vom Jahr 2021 (534.000) deutlich übertroffen wurde. Der konservative Thinktank CPS spricht von mehr als 700.000 im vorigen Jahr, anderen Prognosen zufolge könnte die Zahl sogar nahe an einer Million liegen.

Für die Konservativen ist das Thema hochbrisant. Nach dem Finanzcrash 2008 und der resultierenden Wirtschaftskrise schnellte das Thema Einwanderung in der Prioritätenliste der Bevölkerung nach oben. Tory-Premier David Cameron versprach daher, die Netto-Immigration, also Neuankömmlinge minus Abwandernde, auf unter 100.000 pro Jahr zu drücken. Dass dies in den Folgejahren nicht einmal annähernd gelang, trug 2016 zur knappen Brexit-Entscheidung bei: Skrupellose Populisten hatten den Briten suggeriert, durch die EU-Freizügigkeit stünden der Insel Millionen von Türken ins Haus.

Das Königreich habe die Autonomie über die eigenen Grenzen „wiedererlangt“, geben die Brexiteers gern als wichtigen Erfolg an – umso schwerer wiegt der Kontrast mit stetig steigenden Einwandererzahlen. Sunak und seine nationalistische Innenministerin Suella Braverman, beide von Einwanderern abstammend, machten vor allem mit restriktiver Asylpolitik von sich reden. Diese richtet sich gegen Zehntausende überwiegend junger Männer, die in Schlauchbooten über den Ärmelkanal setzen und dabei Leib und Leben riskieren. Einmal im meist jahrelangen Asylverfahren, werden die Migranten aus Afghanistan, Sudan oder Syrien zu mehr als zwei Dritteln als Hilfesuchende anerkannt.

Dem wollen die Torys einen Riegel vorschieben: Wer „illegal“ ins Land komme, soll zukünftig ohne jedes Verfahren und ohne Rückkehrmöglichkeit ins zentralafrikanische Ruanda abgeschoben werden. Ob dies legal ist, entscheidet im Juni das Appellationsgericht. Einstweilen hat London bereits umgerechnet 158 Millionen Euro an das zentralafrikanische Land überwiesen, abgeschoben wurde kein einziger Flüchtling.

Panik wegen schlechter Meinungsumfragen

Im Oberhaus wird derzeit zudem über ein neues Asylgesetz beraten. Dieses soll Ministern die Möglichkeit geben, Klagen vor dem Europäischen Menschengerichtshof in Straßburg zu ignorieren. Die Opposition wird vom anglikanischen Erzbischof angeführt. Bravermans Asylpolitik sei „moralisch inakzeptabel und praktisch nicht durchführbar“, glaubt Justin Welby. Er und seine 24 Bischofs-Kolleginnen und Kollegen, die der höheren Parlamentskammer qua Amt angehören, würden ihren Widerstand nicht aufgeben.

Klingt da eine Mahnung des obersten Christenvertreters im Land gegen den Hindu-Premier an? Einen Kulturkampf ganz anderer Art wünscht sich Innenministerin Braverman. Die Galionsfigur des äußersten rechten Parteiflügels beschwört regelmäßig den Volkswillen und sagt „linken“ Asyl-Anwälten sowie der „politisch korrekten“ Beamtenschaft den Kampf an. Immigration gefährde den „Nationalcharakter“, glaubt die hochehrgeizige Politikerin, die den Briten empfiehlt, ihr Obst und Gemüse selbst zu pflücken, anstatt die Knochenarbeit den Saisonarbeitern aus Europa zu überlassen.

Die konservative Panik ist vor allem dem anhaltend schlechten Stand in den Meinungsumfragen geschuldet, wo die Torys um bis zu 20 Prozent hinter der Labour-Opposition liegen. Deren bisher stets vager Parteichef Starmer überraschte Freund und Feind am Mittwoch mit einer konkreten Ankündigung. Sollte seine Partei die binnen 18 Monaten fällige Unterhauswahl gewinnen, werde er die Ausbildungsmöglichkeiten der einheimischen Bevölkerung verbessern. Beitragen soll dazu auch die Abschaffung der bisher geltenden Regel, wonach Arbeitgeber Ausländern 20 Prozent weniger Lohn zahlen dürfen. Auf der entsprechenden Liste von Fachkräften stehen nicht nur die Saisonarbeiter in der Landwirtschaft, sondern auch Handwerker wie Dachdecker, Maurer und Fliesenleger. Ihnen weniger Geld zu bezahlen als britischen Arbeitskräften, sei „unfair und führt zu Lohndumping“, argumentierte Starmer im Unterhaus.

Erschwerter Nachzug von Familienmitgliedern

Die neueste Maßnahme der Regierung hingegen schränkt das Recht Studierender stark ein, Familienmitglieder ins Land zu bringen. Dies war schon bisher Bachelor-Studenten verboten. Seit Januar gilt das Verbot auch für Masters-Absolventen. Lediglich Doktoranden und Post-Graduierte bleiben von der Maßnahme ausgenommen.

Britische Unis sind seit vielen Jahren stark von ausländischen Interessenten abhängig. Weil nach dem Brexit die Zahl der Bewerberinnen aus der EU stark abnahm, konzentrierte sich die Lobby-Arbeit der Bildungseinrichtungen auf Länder wie Indien oder Nigeria. Die von dort kommenden Studierenden sind tendenziell älter, haben Partner und Kinder. Deshalb schnellte die Zahl der zusätzlich ins Land Kommenden binnen Jahresfrist um mehr als das Achtfache auf 136.000.

Zusätzlich zur Reduzierung der „abhängigen Personen“ will Braverman Ausländern die Möglichkeit nehmen, die an der Uni neu gelernten Fertigkeiten auf dem britischen Arbeitsmarkt auszuprobieren, wie es bisher vielen möglich war. Schließlich enthält ihr Paket auch schärfere Kontrollen von „skrupellosen Agenten“, die statt besserer Bildung eigentlich Einwanderung durch die Hintertür verkaufen.

Der Unisektor verweist auf die hohe Akzeptanz von Studierenden in der Bevölkerung und eine gewaltige Zahl: Ausländische Bildungshungrige spülen der britischen Volkswirtschaft einer Studie für „Universities UK“ zufolge umgerechnet 48,2 Milliarden Euro in die Kasse. Wie stets bei solchen Untersuchungen bleibt die Herleitung dieser Zahl von unklaren Parametern abhängig; dass die teuren britischen Unis wichtige Geldquellen geworden sind, ist aber unumstritten.