Freitag7. November 2025

Demaart De Maart

Bilanz zu Merkels „Wir schaffen das“Nach fünf Jahren spricht keiner mehr von einer Flüchtlingskrise

Bilanz zu Merkels „Wir schaffen das“ / Nach fünf Jahren spricht keiner mehr von einer Flüchtlingskrise
Ein Flüchtling, der kurz zuvor mit einem Zug angekommen ist, läuft Anfang September 2015 auf dem Münchner Hauptbahnhof über den Bahnsteig und hält dabei ein Foto von Angela Merkel in den Händen Foto: dpa

Jetzt weiterlesen!

Für 0,99 € können Sie diesen Artikel erwerben:

Oder schließen Sie ein Abo ab:

ZU DEN ABOS

Sie sind bereits Kunde?

Nach fünf Jahren ist es an der Zeit, Angela Merkels „Wir schaffen das“ einem Realitätscheck zu unterziehen. Eines ist offensichtlich: Die Republik hat den Ansturm besser als erwartet verkraftet.

Die Flüchtlingswelle von 2015 und 2016 hat Deutschland verändert. Mit der AfD sitzt erstmals eine Kraft in allen Landtagen und im Bundestag, die Flüchtlinge erklärterweise ablehnt. Gleichzeitig ist die Bereitschaft zur ehrenamtlichen Hilfe und zur Offenheit weiter groß. Am Montag vor fünf Jahren sagte Angela Merkel vor der Bundespressekonferenz in Berlin: „Wir schaffen das“. Zeit, um eine Bilanz zu ziehen. Hat Deutschland es geschafft?

Die Bürokratie tat sich schwer

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) war 2015 überhaupt nicht vorbereitet. Zeitweise dauerte es ein halbes Jahr, ehe die Betroffenen überhaupt ihren Asylantrag stellen konnten, und dann noch ein weiteres Jahr, bis darüber entschieden worden war. Inzwischen liegt die Bearbeitungszeit bei unter sechs Monaten, auch dank stark zurückgegangener Fallzahlen. Die Behörde wurde personell massiv aufgestockt, von 2.800 auf jetzt 8.200 Mitarbeiter.

Außerdem bekam sie neue Instrumente an die Hand, etwa eine Spracherkennungssoftware zur Überprüfung der Herkunftsangaben. Einige Turbulenzen gab es an der Spitze des Amtes. Jutta Cordt wurde 2018 wegen der Bremer „BAMF-Affäre“ entlassen. Unter dem neuen Chef Hans-Eckhard Sommer ist die Behörde wieder in ruhigeres Fahrwasser gekommen. Fazit: Kein Ruhmesblatt deutscher Verwaltungskunst.

Die Integration in den Arbeitsmarkt stockt wieder

Von den rund 900.000 Flüchtlingen, die 2015 nach Deutschland kamen, waren 70 Prozent im arbeitsfähigen Alter. Damals herrschte Skepsis, ob der Arbeitsmarkt diesen Ansturm verkraften könne. Doch wurden die Erwartungen übertroffen. „Verglichen mit den in den 1990er Jahren vom Balkan Geflüchteten sind die Schutzsuchenden jetzt schneller und besser in den Arbeitsmarkt integriert“, sagt Herbert Brücker, Migrationsexperte beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg.

Zu verdanken sei das auch der guten Konjunktur gewesen. Rund 40 Prozent der Geflüchteten haben seinen Angaben zufolge mittlerweile einen Job gefunden. Über die Hälfte davon als Fachkräfte oder sogar in akademischen Berufen. Und die Lage könnte noch besser sein, wäre nicht Corona dazwischengekommen. Flüchtlinge arbeiten häufig im Handel oder Gastgewerbe. So waren ihre Jobs besonders stark vom Lockdown betroffen. Fazit: Das Glas ist halbvoll.

Bildung, Sprache, Chancen

Es waren keineswegs die Ungebildeten, die sich aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak auf nach Deutschland machten. 85 Prozent waren laut IAB Fachkräfte in ihrem Heimatland. Doch mangelte es an formalen Berufsabschlüssen. Obendrein konnte kaum ein Flüchtling Deutsch. Heute kennt sich etwa die Hälfte von ihnen damit gut aus. Bei Minderjährigen ist der Anteil noch höher. 90 Prozent der jungen Geflüchteten, die zwischen 2013 und 2016 nach Deutschland kamen, besuchen eine Schule.

„Die Lernbereitschaft junger Geflüchteter ist überproportional hoch, sofern sie Unterstützung erfahren“, heißt es bei der Gewerkschaft GEW. Aber auch zwei Drittel der erwachsenen Flüchtlinge wollen laut IAB in Deutschland noch Bildungsabschlüsse nachmachen. Bislang habe es jedoch nur jeder Vierte geschafft. Fazit: Da ist noch Luft nach oben, auch weil erst spät mit Integrationskursen begonnen wurde.

Unterbringung – die Last der Kommunen

Nach einer aktuellen Untersuchung des BAMF lebte bereits nach drei Jahren nur noch jeder vierte Flüchtling in einer Gemeinschaftsunterkunft. 75 Prozent haben inzwischen eine private Wohnung gefunden. Zu verdanken ist diese Entwicklung laut Studie einer fortschreitenden Integration und der gesunkenen Zahl neu ankommender Flüchtlinge. „Die Städte haben 2015 und 2016 bewiesen, dass sie zu schnellen, pragmatischen Lösungen in der Lage sind und eine große Zahl ankommender Flüchtlinge ganz schnell in Notquartieren unterbringen können“, sagt Helmut Dady, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages. Heute hätten die Kommunen nur noch ein paar Reserve-Kapazitäten. „Sie wollen sich auf die Flüchtlinge konzentrieren, die hier auch eine Bleibeperspektive haben“, so Dady. Fazit: Die Kommunen sind heute besser aufgestellt als 2015.

Von Messermännern und Ausländerhassern

Die Silvesternacht 2015/2016 in Köln machte schlagartig klar: Es waren nicht nur Musterknaben gekommen. Terroranschläge von Islamisten kamen hinzu. Pegida und AfD schlachteten jeden Einzelfall weidlich aus. Fakt ist, dass Flüchtlinge im Vergleich zur Gesamtbevölkerung häufiger straffällig werden. Berücksichtigt man jedoch, dass überproportional viele Flüchtlinge junge Männer sind, relativiert sich der Unterschied wieder.

Zudem geschehen etwa 60 Prozent der Straftaten untereinander, haben also eher mit der Situation in den Lagern zu tun. Junge Nordafrikaner werden wie in Köln deutlich häufiger straffällig als Syrer oder Afghanen, offenbar auch wegen der Aussichtslosigkeit ihrer Asylanträge und damit ihrer Zukunft in Deutschland. Fakt ist, dass trotz mehr als 1,6 Millionen Flüchtlingen seit 2015 die Kriminalität in Deutschland insgesamt weiter stetig zurückgegangen ist. Sprunghaft zugenommen hat allerdings die Kriminalität gegen Flüchtlinge. 2015 und 2016 wurden jeweils rund 1.000 Mal Asylheime attackiert. Hinzu kommen jährlich rund 1.500 Attacken gegen Flüchtlinge. Im letzten Jahr wurden dabei 229 Menschen verletzt. Fazit: Düstere Kapitel auf beiden Seiten.

Der Strom wird aufgehalten

Der Flüchtlingsstrom ist seit dem Abkommen der EU mit der Türkei vom März 2016 praktisch zum Erliegen gekommen. Auch die Abriegelungen auf dem Balkan haben dazu beigetragen. Aber die Flüchtlinge und die Fluchtursachen sind nicht verschwunden. Etwa 40.000 Menschen stecken auf den griechischen Inseln fest, noch viel mehr in Nordafrika. Die Abschottung wirkt sich aus: Die einst von der CSU und Horst Seehofer durchgesetzte „Obergrenze“ von 200.000 Flüchtlingen im Jahr wird seit 2018 nicht mehr erreicht.

Das seinerzeit verbreitete Gerücht, die rund 1,3 Millionen Flüchtlinge der Jahre 2015 und 2016 würden bis zu fünf Millionen Familienangehörige nachziehen, hat sich ebenfalls nicht bewahrheitet. In den ersten drei Jahren seit der Flüchtlingswelle wurden rund 300.000 Visa für den Familiennachzug erteilt; seit 2018 ist die Zahl auf 1.000 im Monat begrenzt. Rund 20.000 bis 25.000 abgelehnte Asylbewerber werden jährlich abgeschoben. Meist Albaner, Nigerianer oder Russen, die keine Asyl- oder anderen Schutzgründe haben. Oder Flüchtlinge, die in das Land ihrer ersten Ankunft in Europa zurückmüssen. Viele Abschiebungen scheitern jedoch weiter an fehlenden Papieren oder anderen Gründen. Fazit: Das Flüchtlingsproblem ist eingedämmt, aber nicht gelöst. Weil die Ursachen fortbestehen.

Meinung: Was Deutschland geschafft hat und was nicht

Merkels legendärer Satz „Wir schaffen das“ lässt sich in drei Richtungen verstehen – und bilanzieren.
Erstens war er an jenem 31. August 2015 ein Appell im Sinne von: Wir müssen es schaffen. Es befanden sich tausende Flüchtlinge in Österreich auf dem Weg nach Deutschland, noch viel mehr auf der Balkanroute. Was hätte Merkel tun können? Die Massen an den Grenzen mit Gewalt zurückschicken ins Nirgendwo? Ein menschliches Drama mitten im zivilisierten Europa erzeugen, dazu noch ein politisches mit den Nachbarländern? Das war keine Option. Für eine restriktive Flüchtlingspolitik war es zu spät. Also Augen auf und durch.
Merkels Satz bedeutet aber auch: Wir wollen es schaffen. Im Sinne einer politischen Absicht. Hier schieden sich die Geister früh. Ein Teil der Bevölkerung wollte den Flüchtlingen grundsätzlich eben nicht helfen, sei es aus Fremdenangst oder Überforderung. Ein anderer Teil wollte es dagegen sehr wohl. Die Willkommenskultur hat diese Auseinandersetzung verloren, die Abschottung gewonnen. Die Drahtverhaue auf der Balkanroute und das EU-Türkei-Abkommen fanden und finden stillschweigende Akzeptanz. Heute würde die Losung heißen: Wir wollen es allenfalls bis zu einer niedrigen Obergrenze schaffen.
Merkels Aussage war zugleich eine Prognose. Im Sinne von „Wir werden es schaffen“. Hier ist das Bild gemischt. Eine Million Menschen mit ganz anderem kulturellen Hintergrund zu integrieren, gelingt nicht konfliktfrei. Es kamen auch viele Probleme ins Land. Mit den Flüchtlingen, aber auch durch jene, die sie ablehnten. Insgesamt aber ist es viel besser gelaufen, als alle Pessimisten damals dachten. Merkel hatte recht: Deutschland ist so stark und so reich, dass es eine solche Ausnahmesituation bewältigen kann. Wenn es will. (Werner Kolhoff)

J.Scholer
30. August 2020 - 11.00

Europa hat genug Probleme seine eigenen Krisen zu bewältigen. So schrecklich es klingen mag, stehen alle Weichen, mit Blick auf Russland, die Türkei , auf Sturm und es könnte sein ,die Europäer selber Flüchtling werden vor einem Krieg in der Ägäis oder nahe der Grenze zu Lukaschenkos Reich.