Donnerstag23. Oktober 2025

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GroßbritannienNach der Isolierung der Insel befürchten Briten einen Versorgungsengpass

Großbritannien / Nach der Isolierung der Insel befürchten Briten einen Versorgungsengpass
Auf der Autobahn M20 Richtung Hafen von Dover steht erst mal alles still Foto: Justin Tallis/AFP

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Wie stets verspätete sich die live übertragene Pressekonferenz der Downing Street auch diesmal. Und wie stets versuchte der Premierminister am Montagabend, seine Corona-gebeutelte und derzeit weltweit isolierte Nation mit Optimismus aufzumuntern.

So schlimm sei die Situation am Ärmelkanal gar nicht, beteuerte Boris Johnson, schließlich seien lediglich 20 Prozent des täglichen Transportvolumens von der Grenzblockade betroffen. Zudem habe er am Telefon eine „exzellente Konversation“ mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron geführt, eine Auflösung der gigantischen Lastwagenstaus im englischen Südosten stehe unmittelbar bevor.

Die erste Äußerung des Regierungschefs führte zu Kopfschütteln bei Branchenexperten. Zwar arbeiteten die Containerterminals an den Häfen von Felixstowe, Tilbury und Southampton tatsächlich reibungslos. Die Importe für frische Lebensmittel aber, auf die das Land im Winter angewiesen ist, kommen mit bemannten Lastwagen durch den Eurotunnel und den Hafen von Calais nach Dover und Folkestone. Schon jetzt ist absehbar, dass den Briten nach Weihnachten Zitronen und Orangen, Salat, Broccoli und Blumenkohl ausgehen werden.

Und ganz egal, wie freundlich Präsident und Premier tags zuvor geplaudert hatten – bis gestern Nachmittag war von einer Lösung des Transportproblems nichts zu sehen. Offenbar beharrten die Franzosen, anders als zu Beginn der Pandemie im Frühjahr, darauf, dass sämtliche einreisenden Trucker einen negativen Corona-Test vorweisen müssten. Zudem blieb umstritten, welche Art von Test dabei benutzt werden könne.

Der Grund für die neue Vorsicht heißt B.1.1.7, eine neuartige Mutation von SARS-CoV-2, auf der Insel zunächst als Variante VUI-202012/01 bekannt. Genomanalytiker von Cog-UK hatten dessen genetischen Code erstmals im Oktober an Virusproben identifiziert, die im September in London und in der Grafschaft Kent genommen worden waren. Inzwischen wurden einzelne Fälle auch in Dänemark, Italien und den Niederlanden sowie in Australien registriert. Wissenschaftler hegen den Verdacht, die Ausbreitung sei viel weiter fortgeschritten. Dass die Variante in England massenhaft festgestellt wurde, könnte daran liegen, dass dort die Genomanalyse extensiv betrieben wird. Knapp die Hälfte aller öffentlich zugänglichen Genomsequenzen von SARS-CoV-2 stammen aus dem Königreich.

Harte Einschränkungen

In der britischen Hauptstadt und der im Osten und Südosten angrenzenden Region Kent hat die Virusvariante offenbar andere Versionen von SARS-CoV-2 rasch verdrängt. Mitte November waren dort 28 Prozent der Covid-19-Fälle auf B.1.1.7 zurückzuführen, einen Monat später betrug der Anteil bereits 62 Prozent. Für die Infizierten besteht zwar nach bisherigen Erkenntnissen nicht die Gefahr eines schwereren Krankheitsverlaufs oder höherer Mortalität; die Variante kann aber Unterlagen des zuständigen Regierungsausschusses Nervtag zufolge die Infektionsrate um bis zu 70 Prozent in die Höhe treiben.

Anfang vergangener Woche wies Gesundheitsminister Matthew Hancock erstmals die Öffentlichkeit auf die Mutation hin. Am Freitagnachmittag, so Johnson, habe man dann die WHO informiert. Tags darauf begründete der Premierminister die Absage eigentlich versprochener Erleichterungen über die Festtage vor allem mit der erhöhten Gefährlichkeit der neuen Variante von SARS-CoV-2. London und der englische Südosten erleben harte Einschränkungen, die einem Lockdown gleichkommen.

Freilich hatten dies führende Wissenschaftler schon Tage zuvor gefordert. Weil die konservative Regierung seit Beginn der Pandemie immer wieder widersprüchlich und zögerlich gehandelt hat, gab es zunächst Zweifel, ob wirklich die neue Virusvariante für Johnsons Entscheidung verantwortlich war. In den Nachbarländern sorgte die Hiobsbotschaft von der Insel für Aufregung und rasche Maßnahmen. Sämtliche EU-Anrainerstaaten schlossen ihre Grenzen für Reisende aus Großbritannien bis auf weiteres, Irland verlängerte gestern die Maßnahme sogar bis zum Jahresende. Während etwa die Niederlande ihre Häfen für Trucker von der Insel offenhielt, machte Frankreich in der Nacht zum Montag ganz dicht.

50 Kilometer Lkw-Stau

In den wichtigsten Kanalhäfen Dover und Folkestone sowie in Calais verschlimmerte sich dadurch blitzschnell eine Krisensituation, die sich im Laufe des Dezember bereits zusammengebraut hatte. Viele Unternehmen auf der Insel haben der Festtage wegen sowie mit Blick auf den Brexit an Silvester ihre Warenhäuser gefüllt, umgekehrt stiegen auch die Exporte. Weil französische Zöllner zudem mehrfach die neuen Verfahren probten, die im neuen Jahr fällig werden, bildeten sich immer wieder auf den wichtigsten Zufahrtsstraßen zum Ärmelkanal, besonders der Autobahn M20, kilometerlange Lastwagenschlangen.

Gestern Morgen war der Stau teilweise 50 Kilometer lang. Innenministerin Priti Patel sprach von 1.500 Trucks, Ian Wright von der Lobbygruppe FDF hielt 4.000 Lastwagen für realistischer. Zu den Betroffenen zählten Angestellte von Seamus McKeegan. Statt die Landverbindung via England zu nutzen, habe er nun Plätze für seine Lastwagen auf der Route Dublin-Cherbourg gebucht, berichtete der irische Spediteur der BBC und klagte: „Wir müssen zwei Schlachten schlagen, Covid und Brexit.“

Den Zusammenhang stellten auch andere her, in die britischen Reaktionen auf die globale Isolierung der Insel mischten sich kritische Stimmen. David Wells vom Branchenverband Logistics UK postulierte einen Zusammenhang zwischen der Gesundheitsvorsorge und politischen Vorgängen wie den fortdauernden Brexit-Gesprächen. Wer dies nicht so sehe, sei „naiv“. Drastischer äußerte sich der stets für farbige Zitate bereitstehende Tory-Hinterbänkler Andrew Bridgen. Die Blockade der Grenze stelle „eine massive Überreaktion Frankreichs“ dar, teilte der Brexit-Ultra auf Twitter mit: „Das Vereinigte Königreich zu erpressen haben diverse Diktatoren versucht, wir haben sie besiegt.“

Einigung muss her

Kriegerische Rhetorik dürfte allerdings in der aktuellen Transportkrise ebenso wenig helfen wie bei den Brexit-Gesprächen. Große Supermarktketten wie Tesco, Sainsbury und Lidl betonten gestern, die Versorgung der Briten mit den Zutaten eines „typischen“ Weihnachtsessens wie Truthahn, Kartoffeln, weiße Rüben und Rosenkohl sei gewährleistet. Allerdings werde es in den letzten Tagen des Jahres zu Engpässen bei frischem Obst und Gemüse kommen. Zitronen und Orangen, Salat und Broccoli kommen im Winter vom Kontinent, vor allem aus Spanien.

Dass die EU gestern ihre Mitgliedstaaten zur Aufhebung der Covid-Blockade Großbritanniens aufforderte, sorgte auf der Insel für Erleichterung. Unklar blieb aber, ob es tatsächlich auch eine Einigung mit Paris über die geforderten Trucker-Tests geben würde. Die entsprechenden Zentren, etwa auf dem stillgelegten Flughafen Manston bei Ramsgate, soll auf britischer Seite die Armee bemannen – Soldaten hatten der überforderten Regierung schon im Sommer aus der Patsche geholfen, als die zunächst kaum vorhandene Infrastruktur endlich Hunderttausende von täglichen Covid-Tests ermöglichte.

Brüssel gegen Grenzschließungen zu Großbritannien

Die EU-Kommission hat sich gegen Grenzschließungen zu Großbritannien wegen der mutierten Variante des Coronavirus ausgesprochen. „Essenzielle Reisen“ sollten weiterhin möglich sein, erklärte die Brüsseler Behörde gestern. Die Mitgliedstaaten sollten sich hingegen bei Vorgaben wie Quarantäne- oder Testpflichten absprechen. Mehrere EU-Länder kündigten allerdings bereits die Beibehaltung von Reiseverboten nach und aus Großbritannien an. Die Regierung in London hatte am Wochenende wegen der raschen Verbreitung der mutierten Corona-Variante vor allem in Südengland die internen Pandemie-Maßnahmen erheblich verschärft. Viele EU-Länder reagierten daraufhin mit Grenzschließungen und Einreiseverboten aus Großbritannien für mindestens 48 Stunden. Flug- und Zugverbindungen wurden eingestellt. Frankreich schloss auch die Grenzen für den Frachtverkehr. Für das ehemalige EU-Mitglied Großbritannien würden beim Thema Transport- und Reisefreiheit aber noch bis Ende des Jahres dieselben Regeln gelten wie für EU-Länder, warnte die Kommission. „Das bedeutet, dass die Mitgliedstaaten die Einreise aus dem Vereinigten Königreich nicht grundsätzlich verweigern dürfen. (AFP)

In Dover ist für die Lastkraftfahrer einstweilen Endstation
In Dover ist für die Lastkraftfahrer einstweilen Endstation Foto: Justin Tallis/AFP

grenzgegner
24. Dezember 2020 - 14.49

Johnson erzählt seinen Landsleuten doch ständig, es wäre ganz einfach, einen "Deal" zu erreichen.

Gleichzeitig versucht er permanent das Gefühl zu vermitteln, die EU wäre weitaus mehr auf Britannien angewiesen als umgekehrt.

Fehlt nur noch, dass er verkündet, die Corona-Krise biete neue, ungeahnte Chancen für das Land!

Und, unglaublich, viele Briten glauben "ihrem Boris", gleich was der verzapft. Wohl bis sie endlich vom Gegenteil dessen, was ihr Boris tagtäglich erzählt, konfrontiert werden.

So isser, der Johnson. Mit schnöder Alltagspolitik hat er nichts am Hut. An den großen Taten sollt Ihr ihn messen. Boris, der Mann, der die Briten aus der EU-Knechtschaft geführt hat! (Ironie!)
Womit ihm ein besonders ehrenhafter Platz in den Geschichtsbüchern sicher ist, so wie seinem großen Vorbild Churchill.

J.C.Kemp
23. Dezember 2020 - 20.22

@HTK Auf der BBC Webseite hat eine (vermutliche) Brexit-Tussi behauptet, sie bräuchten keine europäischen Weine mehr. Brexitland würde längst genug hochqualitative Weine selbst produzieren. Selten so gelacht! Château de Liverpool, Côtes du Yorkshire, Rives du Windermere ?

HTK
23. Dezember 2020 - 9.29

Dann esst eure Fische und euer Hammelfleisch welche wir Europäer uns jetzt nicht mehr leisten können.Gut,dass wir unseren eigenen Wein haben. Blood,Sweat and Tears-BoJo.Dein Faden wird immer dünner.

J.C.Kemp
23. Dezember 2020 - 9.12

Nach einem ungeregelten Brexit, eventuell auch mit einem solchen, der Engpass wird kommen. Allein schon wegen der aufwendigeren Grenzkontrollen und Zölle.