Freitag7. November 2025

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Ukraine-KriegMunition und Neutralität: Was die Schweizer (Doppel-)Moral für die NATO bedeutet

Ukraine-Krieg / Munition und Neutralität: Was die Schweizer (Doppel-)Moral für die NATO bedeutet
Am 1. Oktober besichtigte die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (M.) mit ihrem ukrainischen Amtskollegen Olexij Resnikow (2.v.r) den Getreidehafen von Odessa, wo der Flugabwehrpanzer „Gepard“ zum Einsatz kommt Foto: dpa/Jörg Blank

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Stell Dir vor, es ist Krieg – und die Schweiz hält wegen ihrer Neutralität Schutz für die Angegriffenen zurück. Die Absage an Munitionsnachschub Deutschlands für die Ukraine hat europaweit Überlegungen zur Verlässlichkeit der Schweizer Waffenschmieden im Ernstfall ausgelöst.

12.800 Patronen sind nicht kriegsentscheidend. Doch schon beim Schutz ukrainischer Getreideschiffe spielt die Flugabwehr im umkämpften Süden des Landes eine herausragende Rolle. Deutschland hat dafür ausgemusterte Gepard-Panzer geliefert. Sie sind mit einer 35-Millimeter-Zwillingskanone des Schweizer Rüstungskonzerns Oerlikon ausgestattet. Bewaffnung und Munition kommen somit aus der Schweiz. Doch obwohl die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht nach einer ersten Absage noch einmal dringend intervenierte, verweigert die Schweiz ihre Zustimmung zur Nachschublieferung in die Ukraine. Und das hat Bedeutung weit über die davon konkret betroffenen 12.800 Schuss hinaus.

Zum einen geht es um die deutsche Bundeswehr. Schweizer Munition wird sowohl für das Mantis-Flugabwehrsystem benötigt, als auch für den Schützenpanzer Puma, das alte Kampfflugzeug Tornado und den neuen Eurofighter-Kampfjet. „Wir brauchen verlässliche Lieferketten für den Ernstfall“, sagt die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, dem Tageblatt. Ihre Schlussfolgerung daraus in puncto Schweiz und künftige Munitionsbeschaffung: Die Verlässlichkeit müsse „in Zukunft bei der Beschaffung auf allen Ebenen berücksichtigt“ werden.

Zum anderen geht es um die Beistandsklauseln im EU- und im NATO-Vertrag. Wird ein Land von außen angegriffen, sollen und müssen die anderen alle erdenkliche Unterstützung leisten. Wenn dann die Schweiz ähnlich verfährt wie bei den Gepard-Patronen für die angegriffene Ukraine, können beide Bündnisse einpacken. Denn Waffen und Munition made in Switzerland sind in Europa weit verbreitet.

Volle Auftragsbücher Schweizer Waffenhersteller

Über 3.000 Schweizer Firmen sind in der Waffenproduktion tätig. Die meisten haben ihren Schwerpunkt in zivilen Gütern und fabrizieren nebenbei auch militärische Produkte. Der Trend zeigt deutlich nach oben. Zwar legt die Schweiz Wert darauf, dass sie ihre Verteidigungsfähigkeit in erster Linie durch heimische Waffenproduktion selbst in der Hand behält. Doch darüber hinaus wird eifrig exportiert – im vergangenen Jahr im Wert von mehr als 750 Millionen Euro. Das waren zwar 18 Prozent weniger als im Jahr davor, doch dreimal mehr als noch vor zwei Jahrzehnten.

Ich gehe davon aus, dass diese Haltung nicht durch die Milliarden-Einlagen russischer Oligarchen und Potentaten in Schweizer Banken motiviert ist

Michael Gahler, EVP-Sicherheitsexperte

Seit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine füllen sich die Auftragsbücher der Schweizer Waffenschmieden rapide. Schweizer Medien berichteten, dass die Mitarbeiter in den Waffenfabriken „mit der Arbeit kaum noch nach“ kämen. In den Schweizer Fabriken des Düsseldorfer Rüstungskonzerns Rheinmetall sei die Produktion beschleunigt worden. Auch weitere Firmen stellten eine „Zunahme der Anfragen seitens der NATO-Länder“ fest. Das war allerdings im Mai. Und damit vor der doppelten Absage an eine Ukraine-Unterstützung.

Begründet wird das Nein mit einer doppelten Bindung der Schweiz an absolute Neutralität. Zum einen beruft sich die Regierung in Bern auf die Haager Landkriegsordnung, die es verbiete, in einem Krieg nur einer Seite Waffen zu liefern. Zum anderen sieht sie sich an einer Zustimmung durch das nationale Kriegsmaterialgesetz gehindert, wonach ein Exportverbot für Länder gilt, die in nationale oder internationale Konflikte verwickelt sind oder in denen die Menschenrechte schwerwiegend verletzt werden.

Waffen für Saudi-Arabien, Kriegspartei im Jemen

Wer vor diesem Hintergrund in die Schweizer Exportlisten schaut, muss den Verdacht bekommen, dass die Schweizer Moral in Wirklichkeit eine doppelte ist. Denn auf Platz 6 der Zielländer stand im vergangenen Jahr Saudi-Arabien, das Krieg gegen den Jemen führt und von Menschenrechten nicht viel hält. Das komme daher, dass „Ersatzteile“ für schon bewilligtes Kriegsmaterial geliefert werden könnten, versuchte das zuständige Staatssekretariat für Wirtschaft zu erklären.

Michael Gahler, Sicherheitsexperte der EVP im Europa-Parlament, nimmt die angebliche Neutralitätspflicht der Schweiz im Krieg Russlands gegen die Ukraine auseinander. „Die Schweiz verkauft an Deutschland und selbst der Lieferant Deutschland wird dadurch nicht Kriegspartei. Erst recht kann die Schweiz dann nicht behaupten, im rechtlichen Sinne ihre Neutralität zu verletzen“, sagt der EVP-Abgeordnete. Er hält die Schweizer Begründung einer „Neutralität“ für eine „etwas schräge Interpretation“. Gahler: „Ich gehe davon aus, dass diese Haltung nicht durch die Milliarden-Einlagen russischer Oligarchen und Potentaten in Schweizer Banken motiviert ist.“

Der Außenexperte der Grünen im Europa-Parlament, Reinhard Bütikofer, sieht die Argumentation ebenfalls kritisch: „Wer aus vermeintlichen Neutralitätsgründen einem befreundeten Land militärische Lieferungen verweigert, die einem politisch gemeinsam unterstützten Opfer völkerrechtswidriger Aggression, nämlich der Ukraine, zugutekommen sollten, kann nicht bestreiten, dass der Aggressor, Russland, davon profitiert.“ Im Ergebnis sei diese Auslegung von Neutralität also nicht neutral. Und mit Blick auf die EU- und NATO-Erwartungen sagt Bütikofer voraus: „Waffen nur zu verkaufen, wenn sie garantiert nicht zur Selbstverteidigung eingesetzt werden, das ist keine Position, auf die sich verlässliche Partnerschaft gründen lässt.“

NATO unterstützt Schweiz bei Munition

– Seit 2021 erhält die Schweiz bei ihrer Munitionsproduktion NATO-Unterstützung.
– Die Schweiz wurde Mitglied im 1991 von der NATO gegründeten „Munitions Safety Information Analysis Center“ (MSIAC).
– Aufgabe dieses Zentrums ist es, alle Mitglieder zu beraten, damit sie die Risiken für Personen und Material im Umgang mit Sprengstoffen, Kanonen und Raketenantrieben minimieren können.