„Die Fähigkeiten der Sicherheitskräfte im Bereich der Informationstechnologie haben sich erheblich verbessert“, sagt Orhan Sener, ein Experte für digitale Technologien. Das war bei der Protestwelle 2013, die sich an Bebauungsplänen für den Istanbuler Gezi-Park entzündete, noch ganz anders. „Während der Gezi-Bewegung dominierten die Demonstranten die sozialen Netzwerke und die Polizei war nicht in der Lage, sie zu identifizieren“, sagt Sener. „Aber wenn du heute in der Türkei an einer Demonstration teilnimmst, wird dein Gesicht von einer Kamera erkannt und das System gleicht es mit deinem Profil in den sozialen Netzwerken ab.“
Seit der beliebte Oppositionspolitiker Ekrem Imamoglu vor zwei Wochen festgenommen wurde, gehen die Türken wieder in Massen auf die Straße – trotz Verboten. Rund 2.000 Menschen wurden bei den Demonstrationen festgenommen. Viele weitere Demonstranten holte die Polizei zu Hause ab, nachdem sie anhand von Filmmaterial oder Fotos identifiziert worden waren.
Der Vorwurf: Teilnahme an einer verbotenen Demonstration. Auch den Fotografen Yasin Akgül von der Nachrichtenagentur AFP machten die Behörden auf diese Weise (ebenso wie mehrere andere Journalisten) ausfindig und hielten ihn bis vergangenen Donnerstag fest.
Desinformation
Um nicht erkannt zu werden, verdecken viele Menschen bei den Protesten ihr Gesicht mit Masken, Schals und Mützen. In Istanbul forderte die Polizei Demonstranten immer wieder auf, ihr Gesicht zu zeigen. Weigerten sie sich, durften sie nicht weitergehen, wie AFP-Reporter beobachteten.
„Jedes Druckmittel bringt Gegenmaßnahmen hervor. Wir werden bald sehen, dass mehr Kleidung, Brillen oder Make-up verwendet werden, um die Gesichtserkennungstechnologie zu umgehen“, sagt Arif Kosar, der zu den gesellschaftlichen Auswirkungen neuer Technologien forscht. „Aber ich glaube nicht, dass die Gesichtserkennung das größte Druckmittel ist. Der Einsatz von Desinformation, um die Proteste zu verunglimpfen, zu stoppen und zu spalten, spielt eine wichtigere Rolle“, ist Kosar überzeugt.
Präsident Recep Tayyip Erdogan schmäht die Demonstrationen als „Straßenterror“ und beschuldigte die Teilnehmer, eine Moschee angegriffen und einen Friedhof geschändet zu haben – was die Opposition bestreitet. „Autoritäre Regime wissen inzwischen, wie sie das Internet zu ihrem Vorteil nutzen können. Sie haben einen Weg gefunden, es zu zensieren. Vor allem aber nutzen sie es für ihre Propaganda“, sagt Sener.
Willkürliche Praktiken
Nach der Verhaftung Imamoglus, des Bürgermeisters von Istanbul, reduzierten die Behörden zunächst die Internet-Bandbreite in der Millionenstadt, soziale Netzwerke waren daraufhin dort 42 Stunden lang nicht erreichbar. Sie forderten auch die Plattform X auf, die Konten von mehr als 700 Oppositionellen zu sperren, wie die Betreiber mitteilten.
„Es gab keine gerichtliche Entscheidung zur Reduzierung der Bandbreite oder zur Sperrung von X-Konten. Diese Maßnahmen waren willkürlich“, kritisiert der Jurist Yaman Akdeniz, Vorsitzender der türkischen Vereinigung für Meinungsfreiheit. Ihm zufolge bereitet die Regierung ein Gesetz vor, wonach Messenger-Dienste wie WhatsApp, Signal und Telegram Büros in der Türkei eröffnen und die Identität ihrer Nutzer preisgeben müssten. „Wir bewegen uns auf einen Überwachungsstaat zu“, warnt Akdeniz.
Seit 2020 stellen Internetanbieter der Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologie (BTK) Daten über Online-Aktivitäten und die Identität von Internetnutzern zur Verfügung, wie die oppositionelle Nachrichten-Website Medyascope 2022 aufdeckte. „Laut Gesetz darf die BTK die gesammelten Daten nur zwei Jahre lang aufbewahren. Wir haben jedoch gesehen, dass zehn Jahre alte Daten während der Ermittlungen gegen den Istanbuler Bürgermeister an die Staatsanwaltschaft weitergegeben wurden“, sagt Akdeniz. „Diese Vorratsdatenspeicherung entgegen dem Gesetz öffnet willkürlichen Praktiken Tür und Tor.“
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