Mittwoch5. November 2025

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Feature„Mir ist das alles so egal“: In Russland ist der Krieg in der Ukraine auch nach sechs Monaten seltsam abwesend

Feature / „Mir ist das alles so egal“: In Russland ist der Krieg in der Ukraine auch nach sechs Monaten seltsam abwesend
„Was sein muss, muss sein“: Gruppenbild mit „Z“-T-Shirt auf dem Roten Platz in Moskau Foto: AFP/Natalia Kolesnikova

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In Russland ist der Krieg gegen die Ukraine, den der Kreml „militärische Spezialoperation“ zu nennen nötigt, auch sechs Monate nach seinem Beginn seltsam abwesend. Die Menschen genießen den Sommer. Sie verdrängen, sind gleichgültig, leben in Angst.

Rotorblätter schlagen durch die Luft, in der Ferne erscheint ein Hubschrauber. Ein anderer folgt ihm, noch einer und noch einer. Die Helikopter in Tarnfarben der russischen Armee fliegen tief über das Wasser des Meschtscherski-Sees im Südwesten Moskaus. Der Krach der Militärtechnik lässt die Menschen am Sandstrand kurz verstummen. „Ach, das sind die Unsrigen“, sagt eine Frau im türkisfarbenen Badeanzug zu ihrem Enkel fast nebenbei. „Die Unsrigen beschützen uns.“ Sie reicht dem Jungen ein Stück Brathähnchen, die pralle Sonne scheint auf ihre Köpfe. Kinder planschen im See, Jugendliche schlecken ihr Eis, Männer wie Frauen spielen Beach-Volleyball.

Es ist Sommer, wie er immer ist in Moskau. Heiß, stickig, mit lauem Wind. Die Armee-Helikopter sind nur eine kurze Störung, kaum der Rede wert. Knapp 50 Kilometer westlicher zeigt das Verteidigungsministerium an diesem Tag in einer Ausstellung, was die russischen Streitkräfte zu bieten hätten. Weitere zehn Kilometer südlich lässt es wenige Tage danach Soldaten bei einem „Panzer-Biathlon“ auflaufen. Sie kämpfen gegen Mannschaften aus Simbabwe, Mali und dem Sudan, aus Tadschikistan, Abchasien und Südossetien.

Die „Spezialoperation“ findet vor allem im TV statt

Die Veranstaltungen sind gut besucht. Vor allem Familien kommen. Kinder können hier wie dort auf Panzern herumklettern, die Eltern fotografieren sie mit Gewehr und Armeehelm. Die Begeisterung fürs Militärische wird seit jeher gelebt und gepflegt im Land. Dass russische Truppen ein Nachbarland zerstören, während Hunderte Menschen hier, auf dem Polygon Alabino, Salven aus Panzerrohren zujubeln, findet auf diesem Armeegelände niemand seltsam. „Krieg, welcher Krieg denn?“, ist die Haltung. Auch wenn in Zelten nebenan Ehrenamtliche um den Dienst als Vertragssoldat werben, der Einsatz in der Ukraine werde gut bezahlt, versichern sie, wenn jemand kurz stehen bleibt. „Ach so, die Spezialoperation!“, sagt da mancher. „Der Sieg wird unser sein“, wiederholen die Menschen.

Es sind die gleichen Worthülsen, die viele quer durchs Land seit einem halben Jahr von sich geben. Sätze, wie auswendig gelernt, widersprüchlich, ohne Mitgefühl. „Was sein muss, muss sein, wir werden auch das durchstehen“, meinen sie und klingen trotzig dabei. Manche beten diese Glaubenssätze aus Überzeugung nach, manche aus Selbstschutz. „Mich geht das ja nichts an“, hatte die Frau in Türkis am Meschtscherski-See gesagt. „Was bitte soll ich ändern? Ich bin gar nicht kompetent genug, mich dazu zu äußern. Die Politiker werden schon wissen, was sie tun“, fuhr sie fort und aß ihr Hähnchen dabei. Auch das sind Worte, die in Russland dieser Monate fast schon Hochkonjunktur haben.

Der Krieg in der Ukraine, er ist in Russland auch sechs Monate nach seinem Beginn seltsam abwesend. Die „Spezialoperation“ findet vor allem im Staatsfernsehen statt, Actionfilmen gleich oder als anrührende Geschichten über die „humanitäre Mission“ zur „Befreiung“ der Ukraine. Terror und Vernichtung werden selten thematisiert, und wenn, so werden die „ukrainischen Nazis“ dafür verantwortlich gemacht. Talkshow-Moderatoren machen sich lustig über die Angst der Westeuropäer vor einem kalten Winter. Mutmaßlich russische Kriegsverbrechen wischen sie als „Fake“ schnell beiseite und finden noch für die schlimmsten Schrecken des Krieges stets hasserfüllte und zynische Kommentare. Die Sprache ist durchsetzt mit Worten wie „Abschaum“, „Arschgeigen“, „Abfall“, von dem sich Russland lossagen müsse. Jede Kritik am Vorgehen der russischen Regierung versehen die Propagandisten mit dem Label „Fünfte Kolonne“, die sich gegen die „großartige russische Zivilisation“ zu stellen wage. „Russophobe Abtrünnige“ seien solche Typen, „vom Westen bezahlte Prostituierte“. Und was mit solchen „Verrätern“ zu tun sei, hatte der russische Präsident Wladimir Putin bereits vor Wochen unmissverständlich gefordert: Auszuspucken seien sie, wie lästige Fliegen. Gewalt, zumal unbestrafte, ist längst Politik in Russland.

Unser Land ist ein Verbrecherstaat, und viele in meinem Umfeld heißen das Verhalten der Regierung gut

Der Kleinunternehmer Alexander, der darum bittet, seinen Namen zu ändern

Eine Gewalt, die bei allen Spuren hinterlässt. Sie schlägt in Angst um, in Wut, in Hilflosigkeit. Eltern wollen ihre Kinder „schützen“ und sprechen nicht davon, was in der Ukraine passiert, weil sie Sorge haben, die Kinder erzählten das später in der Schule. „Da fangen ja sofort Probleme an. Und wir haben schon genug davon, die Sanktionen hinterlassen schließlich auch Spuren“, erzählt eine Moskauer Mutter.

Angst herrscht auch darüber, ob bald nicht noch mit mehr Anschlägen auf den Straßen des Landes, der Hauptstadt vor allem, zu rechnen sei. Vor wenigen Tagen erst hatte jemand den Geländewagen einer Kriegstreiberin in die Luft gejagt. Der russische Geheimdienst hatte nach nur eineinhalb Tagen eine ukrainische Diversantin samt Tochter und Katze dafür verantwortlich gemacht. Eine russische Partisanengruppe, bislang völlig unbekannt, hatte sich ihrerseits dazu bekannt. Beide Versionen weisen Ungereimtheiten auf, jede Gruppe instrumentalisiert die blutige Tat, die Hardliner fordern ein noch härteres Vorgehen des Kremls gegen die Ukraine. Auch Explosionen in russischen Grenzstädten zur Ukraine und vor allem auf der Krim machen die Menschen unsicher und führen ihnen vor Augen, dass der Krieg sie doch betrifft, mag so mancher Krim-Urlauber da auch sagen: „Mir ist das alles so egal.“

In der Anpassung hat die russische Gesellschaft Übung. Vom Staat erwarten die wenigsten etwas, für den Staat zählt der Einzelne nichts. Jeder schaut, dass er irgendwie überlebt. Das politische System will es so. Der Mensch soll sich unterordnen, das fängt bereits im Kindergarten an, wo kritisches Denken nicht gelebt wird, sondern abtrainiert. Dass jegliche Gestaltungsmöglichkeit im Laufe des Lebens genommen wird, erzeugt bei vielen ein Gefühl der Ohnmacht. Die Gesellschaft stumpft ab, weil sie gelernt hat, Gewalt, Hilflosigkeit und die alltägliche Unmenschlichkeit hinzunehmen.

„Das Leben ist ohnehin hart genug“, sagen vor allem die, die in wirtschaftlich schwachen Regionen leben. Es sind oft Regionen, in denen junge Männer das Heil in der Armee suchen. Diese zahlt gut, sie lockt mit sozialem Aufstieg, verspricht Ehre und Respekt. Dass ihre Söhne, Männer und Väter in einem sinnlosen Krieg als Kanonenfutter verheizt werden, dass manche von ihnen, kaum in der Ukraine angekommen, im Zinksarg wieder zurückkehren, sorgt für kaum ein Umdenken in den Familien. Für sie sind ihre Gefallenen Helden. Sie nehmen den Tod als Schicksal hin, manche auch als Trost. Welche Mutter will schon wahrhaben, dass ihr Sohn umsonst gefallen ist? So stilisieren viele Verwandte ihre Angehörigen zu „mutigen Heimatverteidigern“ und nehmen den Zustand des Krieges und was er mit sich bringt – die Sanktionen, die Abschottung – als alltägliche Routine hin.

Bequem leben in der Propagandalüge

„Das Leben muss weitergehen. Aber wie?“, fragt sich Alexander, der darum bittet, seinen Namen zu ändern. Sein Geschäft für Dekorationen hält sich mehr schlecht als recht, weil er die Waren eigentlich im Ausland bestellt, die Zahlungssysteme aber kaum mehr russische Konten akzeptieren. Er hat Umwege gefunden, sie nehmen aber viel Zeit in Anspruch. Und auch viele Nerven. In seiner Familie hat er sich mit fast allen Verwandten zerstritten, weil viele die „Spezialoperation“ rechtfertigen, manche aber auch aus Angst verstummt sind. Hin und wieder geht Alexander zum Manegeplatz, gleich neben dem Kreml. Er steht da, still, ohne ein Plakat in der Hand. Es ist seine Art des Protests. „Ich will wenigstens mir selbst ins Gesicht blicken können.“

Einst hatte er bei der Armee gedient, Freunde in der Ukraine haben sich von ihm abgewandt, er verstehe sie, „irgendwie“. „Seit einem halben Jahr schlafe ich schlecht, weil ich nach irgendwelchen Lösungen suche, wie dieser Irrsinn aufhören könnte. Ich finde sie nicht. Unser Land ist ein Verbrecherstaat, und viele in meinem Umfeld heißen das Verhalten der Regierung gut.“ In manchen Momenten wirkt Alexander wie paralysiert. Er will wegrennen und bleibt wie angeklebt stehen. „Die Zukunft meiner Kinder ist dahin, eine menschliche Zukunft unseres Landes ist dahin. Und wir tanzen fröhlich in der Sonne herum.“ Der Unternehmer versucht, mit der Ungewissheit zu leben. Andere haben sich längst in der Propagandalüge eingerichtet. Es lebt sich bequemer damit.