„Finanzielle Inklusion“Mikrofinanz in der Pandemie: „Viele Menschen riskieren in die Armut zurückzufallen“

„Finanzielle Inklusion“ / Mikrofinanz in der Pandemie: „Viele Menschen riskieren in die Armut zurückzufallen“
Dieses Jahr wird die traditionelle Woche der Mikrofinanz digital veranstaltet (Bild aus dem Vorjahr) Foto: e-MFP

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Luxemburg steht diese Woche wieder für einige Tage im Zentrum der weltweiten Mikrofinanz: Bereits zum 13. Mal findet von Mittwoch bis Freitag die Europäische Mikrofinanz-Woche statt. Erstmals nur digital. Das Tageblatt hat mit Sam Mendelson, Spezialist für „finanzielle Inklusion“ der e-MFP, über die aktuelle Entwicklung des Sektors geredet.

Die Mikrofinanz ist eine Art Hilfe zur Selbsthilfe: Potenzielle Kleinst-Unternehmer, die kein Kapital und keinen Zugang zum Bankensektor haben, sollen dank Kleinstkrediten Projekte umsetzen und eigenes Geld verdienen können. Der Kreditnehmer soll mit dem Darlehen beispielsweise in ein Geschäft, in Saatgut oder in eine Maschine investieren können und sich so eine eigene wirtschaftliche Lebensgrundlage aufbauen. Sobald der Kredit zurückgezahlt ist, kann mit besagtem Geld dann die Idee eines anderen Unternehmers finanziert werden.

Besonders seit Muhammad Yunus im Jahr 2006 für die Idee der Mikrokredite mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, ist die Mikrofinanz (später kamen beispielsweise Mikrosparprogramme und Mikroversicherungen hinzu) weltweit zu einer populären Strategie im Bereich der Armutsbekämpfung geworden. Die kleinen Darlehen haben es seitdem Millionen Menschen auf der ganzen Welt ermöglicht, auf eigenen Füßen zu stehen. In Luxemburg wurde das Potenzial der Idee schnell erkannt. Regierung und Finanzsektor sind auf den Zug aufgesprungen, der von wohltätigen Organisationen gestartet wurde.

Doch 2020 kam die Corona-Krise. „Der perfekte Sturm“, so Sam Mendelson gegenüber dem Tageblatt. Corona sei mehr als nur eine Herausforderung für den Sektor. „Es geht um eine existentielle Bedrohung.“ Weltweit habe die Krise alles durcheinandergebracht: Tourismus und Handel sind zusammengebrochen, Arbeitsmigranten in ihre Dörfer zurückgekehrt, Verbraucher haben weniger Geld zur Verfügung. „So etwas gab es noch nie.“

„Am härtesten getroffen werden die Schwächsten“

„Am härtesten getroffen werden die Schwächsten“, so der Fachmann für finanzielle Inklusion bei der Organisation European Microfinance Platform (e-MFP). In den ärmeren Ländern gebe es nicht die gleichen staatlichen Unterstützungsmaßnahmen wie hierzulande. „Zahlreiche Firmen werden pleitegehen“, befürchtet er. „Viele Menschen riskieren zurück in die Armut zu fallen.“

Die Folgen der Krise in Zahlen zu fassen, sei aktuell noch schwierig, erläutert er weiter. „Die meisten dieser Länder haben nicht die gleiche Kapazität zum Sammeln von Daten.“ Die Mikrofinanzinstitute (MFIs) stehen vor mehreren Herausforderungen gleichzeitig. Es gilt, die Gesundheit der Mitarbeiter und der Kunden zu schützen, die Spareinlagen zu sichern und flexibel bei den Rückzahlungen zu sein. Vielerorts hätten Kreditnehmer Moratorien auf den Rückzahlungen erhalten.

Ein Kredit für den Kauf einer Maschine ermöglicht es vielen Menschen, selbst Geld zu verdienen 
Ein Kredit für den Kauf einer Maschine ermöglicht es vielen Menschen, selbst Geld zu verdienen  Foto: Christian Muller

Schlussendlich würden einige Institute in die Pleite rutschen, aber wer, wo und wie viele, sei noch unbekannt. „Umfragen zeichnen ein unterschiedliches Bild. Einige MFIs können Monate überstehen – andere haben Liquiditätsprobleme und brauchen Hilfe. Scheitern sie, dann scheitern auch die Haushalte.“

Begeistert ist er von der Antwort des Sektors. „Es ist möglich, dass das Schlimmste vermieden werden konnte“, hofft er. Viele Investoren, die den MFIs Geld geliehen hatten, hätten eingesehen, dass eine Rückzahlung derzeit einfach nicht realistisch sei. Moratorien seien auch hier eingeführt worden, um einige MFIs vor dem Zusammenbruch zu bewahren. „Im März und April sah es nach einer wahren Katastrophe aus.“ Was aber passiert, wenn ab Januar die Moratorien auslaufen und Rückzahlungen wieder beginnen sollen, sei eine große Frage.

„Dieses Jahr kommt niemand nach Luxemburg“

All diese Themen werden im Rahmen der heute beginnenden europäischen Mikrofinanzwoche in drei Tagen unter die Lupe genommen. Die Konferenz findet jedoch nicht wie in den Vorjahren in der Abtei Neumünster statt, sondern nur digital. „Dieses Jahr kommt niemand nach Luxemburg“, so Mendelson. „Da gab es keine Alternative.“

Die neue Form der Konferenz habe nicht nur Nachteile, fügte er hinzu. Genau wie die Krise mit einem Boom von neuen digitalen Finanzdienstleistungen neue Möglichkeiten schaffe, so biete auch eine digitale Konferenz neue Chancen. So könne man digital beispielsweise mehr Leute erreichen. „Schon in den Vorjahren konnte nicht jeder nach Luxemburg kommen“, so Mendelson. Er hofft auf mehr Konferenzgäste als die 400 bis 500 in den Vorjahren.

So sah es in den Vorjahren bei der Verleihung des „European Microfinance Award“ in den Räumlichkeiten der Europäischen Investitionsbank (EIB) auf Kirchberg aus (Bild von 2016)
So sah es in den Vorjahren bei der Verleihung des „European Microfinance Award“ in den Räumlichkeiten der Europäischen Investitionsbank (EIB) auf Kirchberg aus (Bild von 2016) Foto: Editpress/Isabella Finzi

Man habe mehr als 50 Veranstaltungen organisiert, aber nicht nur Webinars, unterstreicht er. Es gebe auch Möglichkeiten zum Networking, um Investoren zu finden, um Themen in kleinen Gruppen zu diskutieren sowie Umfragen und Interviews zu führen. Man wolle so dynamisch wie möglich sein und Menschen zusammenbringen.

Auch digital stattfinden wird dieses Jahr die Vergabe des mit 100.000 Euro dotierten „European Microfinance Award“. Der begehrte Preis steht jedes Jahr unter einem anderen Thema. 2020 wird ein Mikrofinanzinstitut für seine innovative Art und Weise belohnt, mit der es Kunden zum Sparen motiviert. „Regelmäßiges Sparen hilft beim langfristigen Planen, ist eine gute Versicherung gegen Krisen und schützt vor Schocks“, so Mendelson. „Zudem sind MFIs, die Sparen als Dienstleistung anbieten, unabhängiger und haben Kapital, das sie als Kredite vergeben können. Das Sparen macht sowohl die Kunden als auch die Institute widerstandsfähiger.“

Bei den vergangenen Auflagen belohnte der Award Institute für gute Ideen in Bereichen wie Umwelt, Technik oder Nahrungsmittelsicherheit, Hausbau- oder Bildungsfinanzierung. Den Geldpreis stiftet das luxemburgische Kooperationsministerium. Zu den drei Laureaten, die aus 70 Bewerbungen ausgewählt wurden, zählen Buusaa Gonofaa aus Ethiopien, Muktinath Bikasaus aus Nepal und Renaca aus Benin.

e-MFP

Die „Woche der Mikrofinanz“ wird von der European Microfinance Platform (e-MFP) organisiert. e-MFP ist eine Multi-Stakeholder-Plattform mit Sitz in Luxemburg, die unterschiedlichste Organisationen zu ihren über 130 Mitgliedern zählt. Dazu gehören Universitäten, Banken, Nichtregierungsorganisationen und staatliche Entwicklungsbanken. e-MFP hat sich zum Ziel gesetzt, alle Akteure der Mikrofinanz zusammenzubringen, Wissen zu schaffen und es zu verbreiten. e-MFP beschäftigt sieben Mitarbeiter und wird von Sponsoren, Mitgliederbeiträgen, dem Luxemburger Außenministerium sowie dem Luxemburger Finanzministerium finanziert.