Tageblatt: Herr Kosakowski, gab es einen konkreten Moment, in dem Ihnen klar wurde, „dieses Projekt muss ich verwirklichen“?
Michal Kosakowski: Das war vor etwa acht Jahren. Ich stand in meinem Zimmer vor meinen DVD-Regalen, voller Filme über den Zweiten Weltkrieg, und fragte mich, ob man damit etwas Neues machen könnte. Gleichzeitig erinnerte ich mich an einen Artikel von Claude Lanzmann, den er nach dem Erscheinen von „Schindlers Liste“ (1993) von Steven Spielberg geschrieben hat, in dem er sozusagen ein Bilderverbot ausgerufen hat: Es solle nicht erlaubt werden, fiktionale Geschichten über den Holocaust zu erzählen, weil das einer Grenzüberschreitung gleichkäme, die nicht darstellbar ist. Man sieht das sehr deutlich in „Shoah“ (1985), welche Mittel er in seinem Dokumentarfilm verwendet hat. Das war für mich der Anlass. Und da habe ich gedacht: „Let’s search the archive!“ Schon früher hatte ich mit Archivbildern gearbeitet – etwa in meinem Kurzfilm „Just Like the Movies“ (2006) über 9/11, der sich nur aus Hollywood-Ausschnitten zusammensetzt. Dort wurde mir bewusst, wie stark Bilder aus der Popkultur unser kollektives Gedächtnis prägen. Gleichzeitig ist „Holofiction“ Teil meines größeren „Dark Tourism“-Projekts, das insgesamt zehn Arbeiten umfasst und in dem es generell darum geht, herauszufinden, wie eine kreative Zukunft der Erinnerungskultur über den Zweiten Weltkrieg ausschauen kann. Als ich damals begann, war das Thema fast aus der Öffentlichkeit verschwunden – heute ist es aktueller denn je.

Wie kam das Konzept zustande?
Ich habe in den letzten acht Jahren über 3.000 Filme gesichtet. Mein Ausgangspunkt waren etwa 20 bis 40 zentrale Werke – von „Schindler’s List“ (1993) über „La vita è bella“ (1997) bis „The Pianist“ (2002). Und dann auch kritische Filme, die zu der damaligen Zeit kritisch betrachtet wurden. Diese habe ich ebenfalls einbezogen. Daraus habe ich Hunderte Szenen extrahiert: Nach und nach hat sich gezeigt, welche Bilder sich am häufigsten wiederholen. Ich habe sie archiviert und notiert, sodass sich daraus eine Art Wörterbuch entwickelt hat. Aus diesem Material habe ich dann eine Dramaturgie gebaut. Über Jahre hinweg habe ich das weiter verfeinert: immer wieder neues Material hinzugefügt, Übergänge verbessert, die Struktur verdichtet. Es war tatsächlich wie ein Puzzle oder eine Transformation – am Anfang noch wie ein grob verpixeltes Bild, das sich mit der Zeit zu einem gestochen scharfen Ganzen entwickelte. Die Wiederholung war wichtig: Wenn etwa von einem Nazi gewaltsam Türen aufgerissen werden, dann wird diese Geste erst durch die Wiederholung als Gewaltakt sichtbar. In einem Spielfilm geht die Handlung schnell weiter, aber bei mir bleibt dieser Moment stehen. Entscheidend bei dem Projekt war, dass ich auf dieses große Archiv zugreifen konnte, was ja notwendig ist, um genau diese These irgendwie zu belegen oder ein Äquivalent zu schaffen, das dann die Möglichkeit aufmacht, sich mit dem Thema wirklich eingehend auseinanderzusetzen oder einen neuen Blickwinkel zu eröffnen. Und das ist etwas ganz Spannendes. Dialog ist immer wichtig. Wichtig war auch die Musik. Ich habe zunächst mit Layoutmusik gearbeitet, später hat mein Komponist Paolo Marzocchi darauf seine eigene Ebene entwickelt. Musik und Montage erzeugen eine Art Hypnose, die die Zuschauerinnen und Zuschauer zwingt, diese Ikonografien neu wahrzunehmen. Gleichzeitig wollte ich durch das Einblenden von bekannten Schauspielern immer wieder daran erinnern: Wir sind im Kino, es ist Fiktion.
Meine Generation – die über 50 – kennt den Zweiten Weltkrieg noch aus Erzählungen der Großeltern. Für meine Kinder aber ist diese Vergangenheit so fern wie das alte Ägypten. Mir ist wichtig, dass ‚Holofiction’ in den Bildungsbereich getragen wird – in Schulen, Universitäten, Gedenkstätten.
Sie haben Claude Lanzmanns Verbot jeglicher Darstellung der Shoah bereits angesprochen. Wie gehen Sie als Filmemacher mit dieser Haltung um und welche Rolle kann „Holofiction“ zwischen Skepsis und Erinnerungskultur spielen?
Für mich ist es ein Experiment. Lanzmanns radikale Position hat mich überhaupt erst auf die Idee gebracht. Im Grunde ist „Holofiction“ eine Versuchsanordnung. Es ist ein Experiment von meiner Seite, um zu sehen, was passiert: Ob sich aufgrund dieser provokanten Aussage das Gegenteil beweisen lässt oder auch nicht. Dieser Widerspruch hat mich getriggert und meine Kreativität geöffnet. Ich wollte herausfinden: Kann man – aus Lanzmanns Sicht – ein solches Verbot umgehen? Ich wollte sehen, ob man über die Wiederholung ikonischer Bilder eine neue Perspektive eröffnen kann – ohne die Filme selbst zu negieren. Ich liebe diese Filme, auch die schlechten und trivialen. Sie sind Teil der Filmgeschichte und spiegeln die Zeit, in der sie entstanden sind. Wenn ich weiß, in welchem Jahr ein Film produziert wurde, weiß ich sofort auch, welche geschichtlichen Ereignisse damals passiert sind. Das eröffnet mir immer wieder einen neuen Zugang. Deshalb habe ich im Abspann auch die Produktionsländer genannt: Sie erzählen etwas über die jeweilige Erinnerungskultur. Das war für mich essenziell, weil die Nennung der Länder selbst schon eine Geschichte erzählt: Wer hat wann welche Filme gemacht? Das ist für das Verständnis genauso wichtig wie die Bilder. Natürlich gibt es immer das Risiko der Trivialisierung. Aber das Material existiert – ich habe nichts erfunden. Es bleibt jedem selbst überlassen, sich dazu zu positionieren.
Über Michal Kosakowski
Michal Kosakowski (*1975 in Stettin) ist ein polnisch-deutscher Filmemacher und Medienkünstler, der seit 2000 unter dem Label Kosakowski Films experimentelle Arbeiten zwischen Dokumentarfilm, Installation und Videoessay realisiert. Sein zentrales Interesse gilt der Frage, wie kollektives Gedächtnis durch Bilder geprägt wird und wie sich Fiktion und Fakt im Kino überlagern. Mit dem Projektzyklus „Dark Tourism“ erforscht er seit Jahren kreative Formen der Erinnerungskultur.
In Ihrem Statement schreiben Sie, Sie wünschten sich, dass vor allem jüngere Generationen „Holofiction“ sehen. Was erhoffen Sie sich von dieser Begegnung?
Ich wünsche mir, dass junge Menschen ihre Wahrnehmung schärfen und begreifen, wie Bilder wirken. Der schnelle Schnitt und die bekannten Schauspieler sprechen ihre Sehgewohnheiten an. Viele Gesichter, die im Film erscheinen, sind heute Stars in Serien wie „Star Wars – Andor“ oder Marvel-Filmen. Das schafft einen unmittelbaren Zugang. Meine Generation – die über 50 – kennt den Zweiten Weltkrieg noch aus Erzählungen der Großeltern. Für meine Kinder aber ist diese Vergangenheit so fern wie das alte Ägypten. Mir ist wichtig, dass „Holofiction“ in den Bildungsbereich getragen wird – in Schulen, Universitäten, Gedenkstätten.
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